„Wir wollen unsere jahrtausendealte Kultur bewahren“

21 christliche IS-Geiseln haben im Saarland Schutz gefunden

In: Katholisch.de, 12.10.2015

Als Charlie Kanoun erfuhr, dass die Terrormiliz IS 21 assyrische Geiseln freigelassen hatte, zögerte er nicht lange, sondern setzte alles daran, seinen Landsleuten Schutz in Saarlouis zu ermöglichen. 

Auf einem Sessel im zweiten Stock einer Hinterhaus-Wohnung in der Altstadt von Saarlouis hat es sich Marza Merza bequem gemacht. Er ist 91 Jahre alt und achtet auf sein Auftreten; zwar trägt er einen Dreitagebart, doch seine Kleidung mit Baskenmütze, schwarzem Mantel und dunklem Pullover ist gepflegt. Er ist froh, dass nicht nur er, sondern weitere 20 Verwandte und Bekannte nun im Saarland sind. In Sicherheit – nachdem er Gefangener der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) war.

Merza erinnert sich noch gut an den 23. Februar 2015, als IS-Kämpfer sein Dorf Tal Goran überfielen. Es ist eines von 34 christlichen Dörfern am Chabur-Fluss im muslimisch dominierten Nordosten Syriens. Die Terroristen nahmen mindestens 220 Christen, die noch nicht hatten fliehen können, als Geiseln – und zerstörten Kirchen, Denkmäler und Wohnhäuser. „Das waren die letzten Stätten unserer Kultur, eine der urältesten Zivilisationen Mesopotamiens – Jesus Christus hat unsere Sprache, das Aramäische, gesprochen“, klagt der Greis mit bewegter Stimme.

Es ist das jüngste Kapitel einer lange währenden Verfolgung der kleinen christlichen Minderheit. 1915 war es, als die Osmanen nicht nur an den Armeniern, sondern auch an den assyrischen Christen einen Völkermord verübten. Merzas Vater überlebte damals, die Familie zog in das Gebiet des heutigen Irak. Dort gab es 1933 erneut ein Massaker, das der junge Marza Merza miterlebte. Sein Volk mit einer jahrtausendealten Kultur suchte im heutigen Syrien Zuflucht.

„Wir haben damit gerechnet, getötet zu werden“

Jahrzehntelang waren die Christen dort geduldet, konnten ihre alten Bräuche und ihren Glauben leben. Dann kam der syrische Bürgerkrieg, kamen Tod, Verzweiflung – und die Terroristen. Marza Merza und einige Verwandte, darunter auch Abdo Merza (39) und seine sechsjährige Tochter Miryam, wurden von den IS-Kämpfern in die nächst größere Stadt entführt. „Wir haben damit gerechnet, getötet zu werden“, erinnert sich Abdo Merza, dessen Frau und drei andere Kinder rechtzeitig nach Beirut fliehen konnten.

Die Aufforderung der Islamisten, zu konvertieren, hätten die Assyrer zurückgewiesen, berichtet Marza Merza. Er habe dem Kommandanten gesagt: „Fast 100 Jahre habe ich als Christ gelebt, und jetzt soll ich zum Islam übertreten?“ Tagelang mussten die Merzas auf engem Raum mit der Angst leben, enthauptet zu werden. Doch weil die Assyrische Kirche Lösegeldzahlungen aushandeln konnte, kamen 21 Geiseln frei, darunter die drei Merzas. Fast 200 Geiseln sind bis heute in Gefangenschaft, ihr Schicksal ist angesichts der immer höher werdenden Zahlungsforderungen ungewiss.

Nur ein paar Straßenzüge von der Hinterhaus-Wohnung entfernt, im Ausgehviertel von Saarlouis, lädt das „Kaffeehaus“ zu selbst gebackenem Kuchen ein. Mit seiner Schwester betreibt Charli Kanoun, ein 34-Jähriger Geschäftsmann, das Cafe. Der im Saarland aufgewachsene assyrische Christ ist Vorsitzender des Assyrischen Kulturvereins Saarlouis. Die heimische Kultur in der Ferne am Leben zu erhalten, darum ging es den Mitgliedern bislang. Doch jetzt sind sie vor allem Flüchtlingshelfer.

21 Ex-Geiseln leben in privaten Wohnungen in Saarlouis

Als Charli Kanoun vom Schicksal seiner Landsleute hörte, wurde er bei Behörden und Politikern vorstellig. Er erreichte eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. Der Kulturverein stellte private Wohnungen in Saarlouis bereit, in denen mittlerweile alle 21 Ex-Geiseln leben. Zwei Psychologen bieten kostenlose Betreuung an. „Wir fühlen uns hier wie zu Hause, wir können frei leben“, sagt Abdo Merza.

Sein größter Wunsch ist es, dass auch seine Frau und Kinder vom Libanon nach Deutschland einreisen dürfen, doch die Erlaubnis steht noch aus. „Viele Syrer im Libanon leben in Kellern; wer mit nichts kommt, der hat nicht viele Chancen“, sagt Abdo. Weltweit gibt es nur noch drei bis vier Millionen assyrische Christen. Viele leben im Exil, rund 450 von ihnen im Saarland. „Wir wollen unsere jahrtausendealte Kultur bewahren“, sagt Marza Merza. Die Hoffnung, dass sein Volk eine Zukunft in der Heimat hat, gibt der rüstige alte Mann nicht auf.

Doch er macht sich keine Illusionen: Er wird wohl fern der Heimat, die er mit aufgebaut hat, sterben. Nicht am Chabur-Fluss, sondern an der Saar.

Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.