Über Irpin und Butscha nach Kyiv

Dieser Text ist der finale Beitrag meines Reiseblogs auf dem Weg in die Ukraine. Den gesamten Blog gibt es auf wort.lu unter diesem Link:

https://www.wort.lu/international/mit-dem-fahrrad-von-luxemburg-nach-kiew/1776535.html

Manchmal kann man ihn vergessen, den Krieg. Wenn die Sonne scheint, man eine Allee entlangfährt und die Bäume willkommenen Schatten spenden. Wenn alte Frauen am Straßenrand sitzen und Obst verkaufen und die Bauern die Ernte einfahren. Doch die traurige Realität holt einen meist schnell wieder ein. So auch heute auf dem Weg nach Irpin.

Mein Blick fällt auf einen Dorffriedhof, der von einem frischen, prächtig geschmückten Grab dominiert wird. Die Fahne macht deutlich: Hier liegt ein Gefallener. Ich bleibe stehen und verweil einen Moment am Grab des jungen Mannes. Da kommt eine Anwohnerin vorbei und wir kommen ins Gespräch. Nadia ist 1959 hier geboren und kannte den Gefallenen, der mir nun nicht mehr ganz fremd ist: Andrii war einer der Verteidiger von Irpin, das im vergangenen Jahr so hart umkämpft war.Andrii war beliebt, „alle mochten ihn“, sagt Nadia. Am 3. August wurde er von einem Scharfschützen erschossen und gestern beerdigt. Er hinterlässt eine dreijährige Tochter. „Ich liebe alle Menschen, denn wir sind auf die Welt gekommen, um Gutes zu tun“, sagt Nadia. Mit einem sehnlichen Wunsch: „Ich wünsche mir, dass der Krieg aufhört und nie wieder auf der Welt stattfindet, damit die Mütter nicht weinen müssen.“

Wir verabschieden uns, ich gehe weiter. Keine Stunde später sprechen mich zwei junge Soldaten an einem Bahnübergang an, wir unterhalten uns kurz und machen ein Foto. Es ist ein freundliches, unbefangenes Gespräch. Während die Soldaten weitergehen, denke ich darüber nach, wie sich ihre Eltern jeden Morgen fühlen müssen, wenn sie sich fragen: Geht es dem Jungen gut?

Dass es ihren Töchtern gut geht, wusste Irina an jenem verhängnisvollen 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Großangriffs. Die 55-Jährige ist meine Gastgeberin an meiner vorletzten Station: dem Dorf Irpin. Irina ist die Mutter von Anas, der mich in Krakau aufgenommen hat und nun zum ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder zu Hause ist. Ich freue mich auf das Wiedersehen und darauf, den Rest der Familie kennenzulernen. Zum Beispiel meine jüngere Schwester Anya, die in Kiew Journalismus studiert und noch bei ihren Eltern in Kiew wohnt.

Doch damals, am 22. Februar, hatte Irina angesichts der massiven russischen Truppenbewegungen ein ungutes Gefühl. Also schickte sie ihre Jüngste zunächst für eine Woche zu ihrer Schwester nach Krakau. Dass Anya dort für immer bleiben und ihr Studium aus der Ferne fortsetzen würde, ahnte sie damals noch nicht. Am 23. Februar feierte Irina ihren Geburtstag ohne das Nesthäkchen – „aber das war für mich ein großes Geschenk, weil ich wusste, dass die Kinder in Sicherheit sind“, erzählt die Ärztin.

Am Tag des Angriffs floh Irina mit dem Auto nach Czernowitz, wo sie sich in der Flüchtlingsarbeit engagierte. Ihren Mann, der in Kiew arbeitete, sah sie erst drei Monate später wieder. Wie damals, 1986, als sie mit 18 Jahren ihre Heimat Tschernobyl verlassen musste und ihre Mutter erst drei Monate später wiedersah.

Immerhin hatte die Familie diesmal Glück, ihr Haus blieb weitgehend unversehrt. Einige Nachbarn hingegen verloren alles unter dem Beschuss russischer Panzer. Hunderte Menschen kamen in den ersten Wochen des Einmarsches ums Leben. Vor allem im Nachbarort Butscha.

Mit einem beklemmenden Gefühl nähere ich mich dem Ort, den ich über eine Brücke über den Fluss Irpin erreiche. Die Mitarbeiter des Rathauses zeigen mir die orthodoxe Andreaskirche, hinter der in jenen Wochen Massengräber ausgehoben wurden, um erschossene Zivilisten notdürftig zu bestatten. Die Angreifer schossen damals wahllos auf Menschen, die auf der Suche nach Nahrung aus ihren Häusern kamen.

Es sind furchtbare Bilder, die ich zu sehen bekomme und die mich lange beschäftigen. Aber Irpin und Butscha sind nicht nur Orte des Todes, der Trauer, des Schreckens. Beide Orte bemühen sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit, gestärkt aus dem Elend hervorzugehen und den Wiederaufbau voranzutreiben. Die Einschusslöcher, die Ruinen, die ausgebrannten Autowracks am Stadtrand werden noch eine Weile bleiben. Doch die Hoffnung wächst. 90 Prozent der aus Butscha Geflohenen sind zurückgekehrt, heißt es aus dem Rathaus.

Am Freitag, dem 11. August, dem 41. Tag meiner Tour, holt mich Serhiy Kharchuk in Irpin ab. Der begeisterte Radfahrer ist Gründer des 100-Kilometer-Radrennens Kyiv Century. Zusammen mit einem Freund begleitet er mich auf der letzten Etappe, was für mich ein Segen ist, denn so kann ich mich auf wenig befahrenen Straßen der Hauptstadt nähern. Gegen Nachmittag erreiche ich nach 2.725 Kilometern und 20.577 Höhenmetern endlich den Platz vor der Kiewer Sophienkathedrale.

Knapp 3.500 Euro ist der Zwischenstand bei den Spenden, es könnte mehr sein und ich hoffe auf einige Nachzügler. Aber das Finanzielle sei nicht das Wichtigste, erklärt mir Sergey später beim Essen. Viel wichtiger sei, dass ich mit meiner ungewöhnlichen Aktion unzähligen Menschen auf meinem Weg Hoffnung gegeben habe.

Ich bin immer noch ein zahlenorientierter Mensch, so wie wir Radfahrer eben sind. Wir messen uns an der Leistung. 3500 Euro – da hatte ich mir mehr erhofft. Vielleicht kommt ja noch was. Das Geld wird gebraucht, es geht zu 100 Prozent in Hilfsprojekte für Kinder und für Lebensmittelpakete.

Aber mit der Zeit hat sich mein Blickwinkel verändert, weg von den Zahlen, hin zu einem Aspekt, der für viele Ukrainerinnen und Ukrainer wichtig ist: der Gedanke der Solidarität. Ich habe Touren gemacht, bei denen ich mehr Kilometer geschrubbt habe. Aber ich habe noch nie so viele emotionale Momente auf einer Radtour erlebt. Zu spüren, wie viel es den Menschen bedeutet, dass jemand den weiten Weg aus Luxemburg auf sich genommen hat, um zu ihnen zu kommen, das wird mich sicher mein Leben lang begleiten.

„Michael, ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Reise dich und uns verändert hat“, schreibt mir Wolodymyr aus Krakau. Für ihn, meinen täglichen Unterstützer, war es eine Ehre, an diesem Projekt teilzunehmen, das nicht nur für ihn, sondern auch für Iryna, Max und mich zu einer Mission geworden ist. „Du bist jetzt einer von uns“, schreibt er. Max ist glücklich, Teil von etwas Großem zu sein. Und Iryna fügt hinzu: „Es war sehr wichtig, mir selbst zu beweisen, dass wir immer noch genug Unterstützung bekommen, nicht nur verbal, sondern auch durch Taten.“

Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.