Vor 100 Jahren ging mit der Titanic mehr als ein Ozeandampfer unter
In: Wochenzeitung „Paulinus“, 8. April 2012
Vor 100 Jahren, am 14. April 1912, versank die Titanic in den Fluten des Atlantik. Die Tragödie des Ozeanriesen, der bis zuletzt als unsinkbar gegolten hatte, kostete nicht nur über 1500 Menschen das Leben, sondern erschütterte auch den Fortschrittsglauben vieler Zeitgenossen an die Bezwingbarkeit der Natur durch die Technik.
Das größte Schiff der Welt muss einen imposanten Eindruck gemacht haben – auf die Passagiere wie auf die Besatzungsmitglieder. Auch die Presse hatte die luxuriöse Ausstattung und die gigantischen Ausmaße der Titanic über alle Maßen gewürdigt. Allein Sylvia Mae Caldwell, eine Passagierin aus der zweiten Klasse, hatte gewisse Zweifel, als sie mit ihrem Mann Albert Caldwell am 10. April 1912 in Southampton an Bord ging. „Ist das Schiff wirklich unversenkbar?“, fragte sie einen Gepäckträger. „Ja, meine Dame“, antwortete dieser zuversichtlich, „nicht mal der liebe Gott könnte das Schiff versenken“.So schildert es der renommierte Titanic-Forscher Walter Lord in seinem Standardwerk „Die letzte Nacht der Titanic“ (A Night to Remember) aus dem Jahr 1955. Niemals zuvor und danach ging von einem Schiffsunglück eine derartig große Faszination aus wie von der Titanic, dem Stolz der britischen Seefahrt. Sie war ein schwimmender Palast, ein Triumph der Technik – das Ausrufezeichen einer selbstbewussten, zuversichtlichen und fortschrittsgläubigen Zeit. Mit den radikalen Umbrüchen im Zuge der industriellen Revolution wuchs im 19. Jahrhundert die Zuversicht einer Dominanz des Menschen über die Natur.
Technische Errungenschaften wie die Eisenbahn, das Automobil und die Dampfschiffe machten Distanzen, die bisher geradezu unvorstellbar waren, schnell überwindbar. Imposante Bauwerke wie der zur Weltausstellung 1889 errichtete Eiffelturm demonstrierten die Fähigkeiten moderner Ingenieurkunst. Ein erster Warnschuss war 1879 der Einsturz der Eisenbahnbrücke über den schottischen Firth of Tay. „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“ dichtete Theodor Fontane ein Jahr später, doch der Tod von 75 Menschen konnte den zeitgenössischen Fortschrittsglauben nicht zerstören.
Zuversicht und Vertrauen in die Ingenieurkunst
Zuversicht und Vertrauen in die britische Ingenieurskunst müssen bei den meisten Passagieren der Titanic auch nach der Kollision mit dem Eisberg überwogen haben. Dabei hätte es durchaus Anlass zu einer kritischen Sichtweise gegeben, denn der Mythos der Unsinkbarkeit war mitnichten über alle Zweifel erhaben. Er gründete in der Struktur des Schiffs mit 15 Querschotten, welche den Rumpf in 16 wasserdichte Kammern aufteilten. Im Fall einer Kollision, so nahmen die Fachleute an, würden höchstens ein oder zwei Kammern überflutet, aber das Schiff könne sich weiterhin über Wasser halten.
Doch bei der Konstruktion der Titanic wurden Sicherheitsaspekte untergeordnet: Anstatt die Schotten auf ganzer Höhe des Rumpfes einzuziehen, wurden sie bis auf eine Höhe von neun Metern über der Wasserlinie begrenzt. Das ermöglichte es, lange Fluren und prachtvolle Elemente wie eine große Freitreppe einzubauen, wurde aber in der Unglücksnacht zum Verhängnis.Denn die Kollision mit dem Eisberg beschädigte den Rumpf an mehreren Stellen, sodass sechs Kammern voll Wasser liefen, woraufhin sich der Bug immer tiefer neigte, das Wasser die Obergrenze der Schotten erreichte und nach und nach alle weiteren Kammern überschwemmte. Dieses Szenario hatten die Verantwortlichen für äußerst unwahrscheinlich gehalten, doch am 14. April gegen 23.40 Uhr trat der größte anzunehmende Unfall ein. Männer wie Bruce Ismay, der Direktor der Reederei White Star Line, und Kapitän Edward J. Smith trugen dafür die Verantwortung.
Die letzte Fahrt für Kapitän Smith
Ismay war eigentlich nur ein normaler Passagier, doch er wirkte auf Smith ein, die Atlantiküberfahrt mit hoher Geschwindigkeit zu bestreiten. Sowohl Ismay als auch dem erfahrenen Kapitän waren die zahlreichen Eisbergwarnungen anderer Schiffe bekannt. Die letzte Warnung hatte sogar recht genau angegeben, wo der Eisberg zu erwarten war, und dennoch behielt der Kommandant auch in der Nacht Kurs und Geschwindigkeit bei. Die Titanic hätte der krönende Abschluss seiner Karriere werden sollen, doch in dieser Nacht erlitt Edward J. Smith Schiffbruch.
Er wusste, dass es eine Rettungsübung für die Passagiere nie gegeben hatte und dass die Rettungsboote nur maximal 1178 der 2207 Menschen an Bord aufnehmen konnten. Das wusste auch Bruce Ismay, der sein Leben in einem der letzten Rettungsboote rettete. Von diesem Moment an war er aber nur noch ein Schatten seiner selbst: Nur ein Jahr nach der Katastrophe zog er sich aus der Firmenleitung zurück, kaufte sich ein Anwesen an der Westküste Irlands und lebte dort zurückgezogen bis zu seinem Tod 1937. Für den Kapitän wie für viele andere Männer an Bord war es eine Frage der Ehre, die Rettungsboote den Frauen und Kindern zu überlassen. Die alte Seefahrtsregel wurde von vielen Offizieren beherzigt, doch zu einer heldenhaften Legendenbildung taugt sie nichts.
Die dritte Klasse erhielt zunächst keinen Zugang zu den Decks
Es gehört nämlich auch zur Geschichte der Titanic, dass die Passagiere der dritten Klasse kaum eine Berücksichtigung fanden. Alles deutet darauf hin, dass ihnen nach dem Unglück zunächst kein Zugang zu den Decks gewährt wurde. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Unter den Todesopfern waren nur vier von 143 Frauen aus der ersten Klasse, aber 81 von 179 Frauen der dritten Klasse. 28 von 29 Kindern der ersten und zweiten Klasse wurden gerettet, aber nur 23 von 76 Kindern der untersten. „Die dritte Klasse hatte keine Chance, bei ihr endete der Heldenmut der Besatzung“, urteilte Walter Lord. Die Klassengesellschaft spiegelte sich nicht nur im Leben an Bord, sondern auch im Sterben wider.
Um 2.20 Uhr war der Todeskampf des Schiffs zu Ende. Es brauchte nicht den Allmächtigen, um die „unsinkbare“ Titanic zu zerstören. Dafür reichten ganz allein die Ruhmsucht und Überheblichkeit der Erbauer und der Leichtsinn der Besatzung. Der Fortschrittsglaube an die Bezwingbarkeit der Natur durch den Menschen wurde durch die Tragödie, die innerhalb weniger Tage weltweite Bestürzung hervorrief, erschüttert. Zwar wurden vernünftige Rückschlüsse gezogen und Maßnahmen eingeleitet: Die „International Ice Patrol“ wurde gegründet und die Regeln für die Anzahl der Rettungsboote an Bord verbessert.
Kommandobrücken sind zu Hightech-Stationen geworden
Mittlerweile hat das digitale Zeitalter die Kommandobrücken in moderne Hightech-Stationen verwandelt. Das suggeriert wie damals eine absolute Sicherheit, die jedoch niemals erreicht werden kann. Denn noch immer sind Unvernunft und Leichtsinnigkeit ständige Begleiter der Schiffahrt. 100 Jahre nach der Titanic haben das jüngst die Passagiere der Costa Concordia erleben müssen: Trotz modernster Bordtechnik führte Kapitän Schettino seinen Luxusliner gefährlich nah an der Insel Giglio vorbei – zu nahe. Er hatte einem Crewmitglied, wie einst Kapitän Smith gegenüber Ismay, einen Gefallen tun wollen.
Was dem einen der Eisberg war, waren dem anderen die Felsen vor Giglio: Fanale einer verhängnisvollen Entwicklung, für die sie nur sich selbst zur Rechenschaft ziehen konnten.