Unser tägliches Pfand gib uns heute

Eindrücke von einer Reise mit Zelt, aber ohne Geld

In: Wochenzeitung Paulinus, 16. Oktober 2011

Eine Reise ist in der Regel ein teures Vergnügen. Doch geht es auch ganz ohne Bares und Kreditkarte? Paulinus-Mitarbeiter Michael Merten wollte dieser Frage nachgehen: Mit Zelt, aber ohne Geld machte er sich zusammen mit Studienfreund Stefan Nünlist auf den Weg von Tübingen nach Trier. Ein Reisebericht aus ungewöhnlicher Perspektive.

„Sie können auch mit Karte zahlen“.

Der Ratschlag des Mannes am Nachbarautomaten ist sicher gut gemeint, aber Stefan und ich können uns ein Grinsen nicht verkneifen. Denn wir haben keine EC-Karte dabei, sondern nur drei letzte Geldscheine. Sie sind unser einziges Geld, das wir am Trierer Hauptbahnhof dazu verwenden wollen, ein Quer-durchs-Land-Ticket für zwei Personen zu kaufen. Doch der Automat will und will eine unserer Noten beharrlich nicht akzeptieren. Welche Ironie: Zwei jungen Männern, die zu einem Tripp ohne Geld aufbrechen wollen, gelingt es nicht, ihre letzten Scheine los zu werden.Erst der Besuch eines nahegelegenen Supermarktes schafft Abhilfe, die ausgetauschte Note macht keine Probleme, und wir setzen uns glücklich, aber als arme Schlucker in den Zug. Unser Abenteuer kann beginnen. „Ohne Geld durch eine Welt zu gehen, in der sich alles um Mark und Pfennig dreht, hatte etwas Utopisches für mich“, schrieb Michael Holzach 1980 in seinem Buch „Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland“. Von seinem Abenteuerbericht haben wir uns anstecken lassen, und wir wollen wissen, ob auch 30 Jahre später noch ein solches Vorhaben gelingen kann. Wenn auch in weitaus geringerem Umfang, denn wir haben nur zwei Wochen Zeit. Unser Plan ist, von Tübingen aus, wo ich meine frühere Praktikumskollegin Birgit nach langer Zeit wieder einmal treffen möchte, durch Wandern und Trampen wieder nach Trier zu gelangen.

Letztes Rendezvous mit der gewohnten Art, zu reisen

Birgit lädt uns auf einen Kaffee in der Tübinger Altstadt ein – ein letztes Rendezvous mit der gewohnten Art zu Reisen. Nach den ersten rund 15 Kilometern verbringen wir unsere erste Nacht auf Betonboden in einem Unterstand in Dettenhausen nördlich von Tübingen. Noch haben wir etwas Proviant dabei, doch ein erster Versuch, in einer Bäckerei nach etwas altem Brot oder Gebäck zu fragen, kann ja nicht schaden. Die Bäckersfrau erteilt uns eine klare Abfuhr, und wir brechen nach Stuttgart auf. Hier beziehen wir ein Nachtquartier bei Sarah und Patrick, einem alten Kumpel meines Weggefährten Stefan. Obwohl wir eine bequeme Schlafcouch beziehen, für die wir uns durch Erledigen von Hausarbeiten revanchieren, müssen wir dringend Nahrungsmittel für die kommenden Tage beschaffen. Da wir in einer Großstadt sind, versuchen wir, uns als Hilfsarbeiter für einen Tag zu verdingen.

Das soll uns ein paar Euro in die leeren Kassen spülen. Ein Bio-Bauer gibt uns eine Abfuhr („Morgen soll es regnen, da machen wir nix“), ebenso einige Winzer („Der Trollinger wird erst im Oktober gelesen“). Doch davon lassen wir uns nicht entmutigen; jede sich bietende Gelegenheit wollen wir beim Schopfe packen. Doch weder eine Möbelspedition, noch ein Auktionshaus, noch der BUND noch ein Handy-Geschäft wollen uns für Hilfsarbeiten wie Flyer verteilen ein bisschen Kleingeld geben. Wir sind ja in der Wutbürgerstadt Stuttgart – also fragen wir bei den beiden Kontrahenten des umstrittenen Bahnhofsneubaus nach – der CDU-Geschäftsstelle und den Parkschützern am Schlossgarten – ob wir Aktionsflyer oder Ähnliches verteilen können. Doch wir zwei Dahergelaufenen haben keinen Erfolg. Auch zwei Tage Tage später in Heidelberg versuchen wir es erneut als Tagelöhner. Aber die Winzer der Umgebung brauchen keine Erntehelfer, hier wird alles maschinell gelesen. Entmutigt schlagen wir uns diese Idee aus dem Kopf.

Das Pfand eines Energydrinks verleiht Flügel

Die Enttäuschung hält nicht lange an, denn ein Energydrink verleiht uns Niedergeschlagenen Flügel. Es ist weniger der Inhalt als vielmehr die Verpackung des Getränks, die wir zufällig in einem Mülleimer entdecken. Eine solche Red-Bull-Dose ist ganze 25 Cent wert. Auch wenn es mühselig zu werden droht, beschließen wir, fortan in jeden Mülleimer zu schauen und unser Hauptaugenmerk auf das Sammeln von Pfandflaschen zu legen. Das ist ein hart umkämpftes Geschäft: Die Konkurrenz schläft auch spät abends nicht, und man muss zahlreiche Straßen abklappern, um eine Tüte voll zu kriegen. Doch mit jeder Stunde werden wir treffsicherer, können Pfanggründe besser einschätzen und entwickeln neue Strategien. So suchen wir gezielt Hecken und Gebüsche ab, in denen massenweise alte Bierflaschen herumliegen (die zwar nur 8 Cent bringen, aber Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist).

In den ersten dreieinhalb Stunden gezielten Pfandsuchens erzielen wir zusammen 4 Euro und 7 Cent. Am Abend kommen weitere 2,70 Euro hinzu. Das gibt uns einen ersten Grundstock, den wir in Mannheim ausbauen wollen, um danach für den Marsch durch ländliche, pfandarme Gebiete gewappnet zu sein. Hier landen wir einen Volltreffer: Während ich bei einer ersten Pfandtour in zweieinhalb Stunden nur rund 50 Cent einnehmen kann, gelingt es mir kurz vor Mitternacht, bei den um unser Zelt am Rheinufer feiernden Jugendlichen zahlreiche wild verstreute Flaschen abzugreifen. Mein Gesicht strahlt vor Freude: Es sind fast ausschließlich große 25-Cent-Flaschen, die zum Mixen von Vodka-Lemon benötigt wurden. Jetzt liegen sie in meinem großen Sack und bringen uns über 6 Euro ein.

Auch das Trampen geht problemlos

Das Glück ist uns Wanderern nicht nur in Sachen Pfand hold. Denn obwohl wir jeden Tag zwischen zehn und zwanzig Kilometern marschieren, müssen wir schnell einsehen, dass uns die mehr als 15 Kilo Gepäck in unseren Rucksäcken an langen Gewaltmärschen hindern. Schließlich müssen wir uns nebenbei auch unseren Lebensunterhalt verdienen. Deshalb trampen wir zwischendurch immer wieder von einem Ort zum anderen. Nur in einem Fall müssen wir mehrere Stunden warten, um dann schließlich weit über unser angestrebtes Ziel hinaus zu gelangen. Ansonsten finden wir meist innerhalb der ersten halben Stunde freundliche Zeitgenossen, die uns beiden Rucksacktourer mitnehmen. In Losheim etwa betreten wir den Parkplatz des Mc Donalds, und schon nach wenigen Sekunden nimmt uns ein junger Mann nach Saarburg mit.

Nicht überall haben wir den Eindruck, besonders willkommen oder akzeptiert zu sein. In den Einkaufsstraßen der Heidelberger Altstadt fühlen wir uns als Dahergelaufene, als dubiose Menschen, mißtrauisch beäugt von den Anderen, während wir hier und da die Mülleimer beäugen und Flaschen herausnehmen. Doch wir sind nicht immer nur die dubiosen Gestalten. Da ist etwa Can, ein türkischstämmiger Jugendlicher aus Mannheim. Nachts um halb zwölf komme ich mit ihm und seinen Freunden ins Gespräch. „Entschuldigen Sie, sammeln Sie Pfand?“, fragt er mich. Ich bejahe es und erkläre ihm und seinen Freunden, warum wir das machen. Interessiert fragen sie mich, wie wir das denn mit Waschen und Duschen so machen. Zum Abschied drückt mir Can sein Kleingeld in die Hand und ruft mir nach: „Türken sind korrekt, merken Sie sich das“.

Ich werde es mir merken. In meiner Hand liegen ganze 1,80 Euro. Am nächsten Morgen bringen wir unser Pfand zum Supermarkt und treffen auf Kollege Egon. Mit großer Herzlichkeit lädt er uns auf ein Bier ein und erzählt uns seine Geschichte: Vom Brauer wurde er zum Hartz-IV-Empfänger, der fast jeden Abend seine Haushaltskasse mit Pfandsammeln aufbessert. Er besorgt uns über seine Beziehungen gereiftes Brot vom Markt zum halben Preis, und wir verraten ihm, wo er an diesem Abend einen guten Fang machen kann. Denn Can und seine Freunde wollen wieder ihre leeren Flaschen auf der Wiese zurücklassen.

Nur das Wenigste kam so, wie wir es geplant hatten

Unsere letzte Etappe, die 23 Kilometer von Saarburg nach Trier, wandern wir in einem Rekordtempo. Schließlich kommen wir am Grab des Apostels Matthias an. In der Stille des Kirchenraumes, dem spirituellen Ende unserer Reise, lassen wir unsere Gedanken schweifen. Es waren neun spannende, intensive Tage. Von Tübingen sind wir über Stuttgart, Heidelberg, Mannheim, Losheim und andere Orte nach Trier gewandert und getrampt. Über 400 Kilometer haben wir CO2-neutral bewältigt. Unser tägliches Brot haben wir uns mit Pfandsammeln verdient. Aber wir haben auch sehr viel Gutes erfahren durch Menschen wie Can, Egon und andere, die wir zufällig getroffen haben. Es waren Menschen, von denen wir das vorher eher nicht erwartet hätten. Nur das Wenigste kam so, wie wir es vorher geplant hatten. Eine wichtige Erfahrung für uns ist: Mitmenschlichkeit kommt meistens dann, wenn man sie am wenigsten erwartet.

Wir haben erfahren, dass wir nicht wirklich all das, was wir für unverzichtbar halten, zum Leben wirklich brauchen. Mit dieser Erkenntnis verschluckt uns der Alltag wieder. Am nächsten Tag stehe ich in einem Kaufhaus. Ich erkenne, welchen Luxus ich genieße:

Ich kann einfach so mit Karte zahlen!

Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.