„Quetscht Euch rein und dann geht’s los“

Zur Autobahn-Auffahrt und den Daumen raus – so haben Generationen junger Menschen ihre Urlaubstage begonnen. Doch das Trampen ist längst nicht mehr so beliebt wie in vergangenen Jahrzehnten, weshalb sich Forum-Autor Michael Merten die Frage gestellt hat: Kann man heute noch bequem per Anhalter reisen? Zusammen mit Kommilitonin Sook-Thing Wong machte er sich auf den Weg Richtung Norden – und landete in Kopenhagen. Ein Bericht über eine rund 2200 Kilometer lange Tour, die viele Überraschungen bot und Einblicke in 24 Autos und das Leben ihrer Fahrer gewährte.

„Vorsicht, wir setzen auf“, warnt Beifahrerin Helena ihren Freund, als sie die Bodenwelle vor sich erblickt. Es ist ein heißer Mittwoch im August. In der drückenden Mittagshitze steuert ein klappriger Zweier Golf eine Tankstelle auf der A1 Richtung Koblenz an. Helena weiß: Eine solche Unebenheit auf der Fahrbahn kann dem Gefährt gefährlich werden, denn der Auspuff wackelt seit einiger Zeit bedenklich. „Ich will nur noch über den TÜV kommen“, erklärt Paddi, ein junger Mechaniker, dem das mit Paddeln, einem Schlauchboot und Taschen recht voll beladene Auto gehört.

Seit wenigen Minuten ist es noch enger auf der Rückbank, denn Thing und ich sitzen mit unseren Rucksäcken zwischen den Badesachen für einen Ausflug zum See. Obwohl er selbst ziemlich viel Gepäck dabei hat, ist es für Paddi völlig selbstverständlich, zwei Tramper mitzunehmen. „Fährst Du Richtung Koblenz?“, habe ich ihn in Wittlich gefragt, worauf er geantwortet hat: „Nee, nur bis Manderscheid“. Das sind zwar nur knapp 25 Kilometer, aber es ist besser als nix, und wir kommen dadurch auf die Autobahn. „Quetscht Euch rein“, sagt Paddi, der sich einen Spaß mit seiner Freundin erlaubt: „Wenn sie gleich vom Bezahlen zurückkommt, sagt doch, dass ihr einfach so eingestiegen seid“.

Helena und Paddi zählen zu unseren ersten Mitfahrgelegenheiten bei unserer Tour, die uns Richtung Norden in die skandinavischen Länder führen soll. Die Idee, einen Urlaub ganz ohne (eigenes) Auto, Bus, Bahn, Rad oder Flugzeug anzugehen, hat mich schon länger fasziniert. Zwar hat auch eine Pauschalreise mit All-Inclusive-Hotel ihren Reiz, aber ich will dem bekannten Schema entgehen: Einmal keine Sicherheiten, keine vorgeplanten Routen, Daten und Ziele im Kopf haben, sondern einfach drauf los, ohne zu wissen, wo man morgens aufbrechen und abends landen, geschweige denn übernachten wird. „Früher haben wir das ständig gemacht“, erinnern sich viele Leute über ihre Erfahrungen mit dem Trampen – meist mit einem Leuchten in den Augen. In den 70er, 80er Jahren gab es für viele keine andere Möglichkeit: Ein eigenes Auto war für viele zu teuer, und das Wort „Billigflieger“ gab es noch nicht. Mittlerweile ist das Reisen viel erschwinglicher geworden, weshalb Teenager das Symbol einer geschlossenen Hand, deren Daumen nach oben zeigt, wohl eher mit dem „Gefällt mir“-Button bei Facebook als mit dem Trampen in Verbindung bringen.

Schauen wir doch mal, ob das heute noch gut geht, so ein Urlaub per Anhalter, „Hitchhiking“ genannt. Diese Frage packt auch meine Kumpelin Sook-Thing Wong, und da wir beide gleichermaßen den Kopf frei bekommen wollen, machen wir uns auf den Weg. An einer Tankstelle in der Trierer Innenstadt geht es los: Wir wollen auf die Tankenden zugehen und sie direkt ansprechen, was erfolgsversprechender ist als die klassische Daumen-raus-Variante. Nach einem kurzen Augenblick steigt eine Frau aus ihrem Wagen, der in unsere Fahrtrichtung zeigt. Ich mustere sie kurz, überwinde meine Anfangshemmungen und steuere sie an. „Entschuldigen Sie, wir wollen Richtung Autobahn, können Sie uns beide ein Stück mitnehmen?“, frage ich die Dame. Sie verschwendet nicht viele Blicke an mich und schleudert mir ein kurzes „Nein“ entgegen. Das fängt ja gut an! Aber immerhin hat sie mich überhaupt zur Kenntnis genommen, was, wie ich einige Tage später weiß, nicht immer der Fall sein muss. Einige Autofahrer reagieren gar nicht erst auf Ansprechversuche oder flüchten sich in Ausreden – da ist doch so ein klares, einfaches Nein viel ehrlicher. Wir kontaktieren sieben weitere Fahrer, doch die meisten fahren nur zum Büro um die Ecke oder zum Einkaufen. Nach einer halben Stunde haben wir unsere erste Mitfahrgelegenheit: Dorin, ein etwa 30 Jahre alter Krankenpfleger, nimmt uns mit ins rund 35 Kilometer entfernte Wittlich. Dort gabeln uns Paddi und Helena auf, und an der Raststätte vor Manderscheid nimmt uns ein freiberuflicher Karriereberater mit. Wie wir erfahren, schult er, der üblicherweise nach Führungskräften für Unternehmen sucht, sich derzeit im Bereich „Outplacing“: Um für die nächste Krise gewappnet zu sein, will er nicht nur mit dem Aufbau, sondern auch dem Abbau von Arbeitsplätzen Geld verdienen können. Er setzt uns am Kölner Hauptbahnhof ab, wo wir beschließen, die Nacht im Zelt am Kölner Rheinufer zu verbringen. Fünf Stunden haben wir an unserem ersten Tag in drei verschiedenen Autos gesessen, die uns rund 190 Kilometer mitgenommen haben. Am zweiten Tag, an dem wir in Hamburg landen, sind es fünf Fahrer und 425 Kilometer. Von der Elbmetropole aus geht es sehr zügig bis nach Dänemark: Ein Geschäftsmann aus der Grenzregion nimmt uns 188 Kilometer mit bis Aabenraa in der Flensburger Gegend, das so malerisch an einem Fjord gelegen ist, dass wir uns gegen eine Weiterfahrt entscheiden und uns am örtlichen Campingplatz absetzen lassen. Zuvor steuert der Geschäftsmann jedoch einen Parkplatz hinter Flensburg an, wo er seinen teuren Audi Quattro neben Ferraris und Porsches abstellt. Wir steigen in einen günstigeren Mercedes um, und ich frage mich: Was sind das hier für Machenschaften? Wie uns Fahrer Jens erklärt, hängt das mit der Steuerfahndung zusammen: Würde er mit seinem in Deutschland zugelassenen, weil in Dänemark viel höher besteuerten Audi dänischen Boden befahren, müsste er gewaltige Strafzahlungen im sechsstelligen Bereich entrichten.

Der nächste Tag wird unser bisher schlechtester Tag: Obwohl es nur rund 285 Kilometer bis Kopenhagen sind, erreichen wir die Hauptstadt erst um 22 Uhr. Der Grund: Es gelingt uns nicht, zu einem Rastplatz auf der Autobahn zu kommen, weshalb wir auf der parallelen Landstraße immer nur kleine Etappen mitgenommen werden. Den Tiefpunkt unserer Stimmung haben wir um 19 Uhr erreicht: Seit dreieinhalb Stunden stecken wir an einer Autobahnauffahrt bei Odense fest, die Autos rasen an uns vorbei, und wir sind zunehmend frustriert. Gestrandet im Nirgendwo – welch ein elendes Schicksal! Hier lernen wir zum ersten Mal die Schattenseiten des Anhalterdaseins kennen: Es gibt niemals die Gewähr für ein zügiges Weiterkommen! Doch wenn du denkst, es trampt nichts mehr, kommt von irgendwo ein Fahrer her. In diesem Fall ist es ein Berufssoldat, der uns bis Kopenhagen mitnimmt, wo wir auf der Suche nach einem freien Zimmer durch die halbe Stadt marschieren, bis wir um ein Uhr nachts fündig werden. Um uns von diesen Strapazen zu erholen, gönnen wir uns anderthalb Tage in der Metropole der Radfahrer, die einen bezaubernden Charme versprüht. Am sechsten Tag beginnen wir – schließlich will das Training für den Saarschleife-Halbmarathon nicht länger warten – mit der Rückreise nach Deutschland, die uns drei volle Tage kostet. Zunächst schaffen wir es nur auf die 121 Kilometer entfernte Insel Farø, wohin uns eine Gruppe französisch-Tibetischer Mönche mitnimmt. Hier genießen wir noch einmal den dänischen Meerblick, denn am nächsten Tag wollen wir wieder in Deutschland sein. Doch wer hätte gedacht, dass diese verdammten 60 Kilometer von Farø bis zum Fährhafen in Gedser sich so ziehen würden? Kaum ein Fahrer hält für uns an, aber weil so viele deutsche Urlauber an uns vorbeifahren, hat Thing eine gute Idee: Sie schreibt „Nach Hause“ auf ein Schild, und wenige Minuten später hält ein LKW-Fahrer an, der uns mit „Nach Hause will ich auch“ begrüßt und einsteigen lässt. Noch bis kurz vor Bremen schaffen wir es an diesem siebten Tag, wo wir um 22.30 Uhr auf dem Grünstreifen eines großen Autobahn-Rastplatzes unser Zelt inmitten von LKWs aufstellen (424 Kilometer, 5 Fahrer). Der achte soll gleichzeitig unser letzter Tag sein: Das müssten wir von Bremen eigentlich schaffen. Zumal ich zum ersten Mal während unserer Tour selbst aktiv werden kann. Denn ein Hamburger Geschäftsmann winkt mich zu sich, will wissen, wo wir hinwollen und fragt: „Kannst Du fahren?“ Klar kann ich das, und mir nichts, dir nichts sitze ich am Steuer seines A6 Richtung Essen. Jochen muss zu einem wichtigen Termin, hat aber am Vorabend ordentlich gefeiert und ist nicht fit genug zum Fahren. Das übernehme ich mit Vergnügen, denn nach so vielen Stationen mit den unterschiedlichsten Autos, vom alten Golf bis zum teuren Audi, hat mich die Lust am Fahren gepackt. Noch zwei weitere Fahrer, darunter einer mit einem Sportboot auf dem Anhänger, nehmen uns an unserem letzten Tag insgesamt 545 Kilometer mit.

Nach 2178 Kilometern ziehen wir Bilanz. Das Trampen ist heutzutage zwar ein selteneres Phänomen geworden, aber es ist immer noch eine günstige und vor allem spannende Art der Fortbewegung. Eine Reiseform, die das menschliche Leben mit seinen Sackgassen und Fehlentscheidungen wiederspiegelt, wie Thing erkannt hat: „Jede Entscheidung hat Konsequenzen: Bei wem fahren wir mit und bei wem nicht? Sollen wir die geplante Route revidieren? Wann weiß man, ob man eine richtige Entscheidung getroffen hat? Eigentlich nie. Manchmal sind wir im Nirgendwo gelandet, haben ewig gewartet. Aber Höhen und Tiefen braucht man im Leben.“ Trampen ist manchmal sehr nervenaufreibend: Du stehst stundenlang an einem gottverlassenen Ort und denkst, dass sich die Welt gegen Dich verschworen hat. Trampen ist also nichts für Menschen mit einem straffen Terminplan und wenig Geduld. Trampen hilft dabei, Vorurteile abzubauen. Wie oft sahen wir einen Menschen und haben vermutet: „Der nimmt uns eh nicht mit“. Doch das täuschte uns meist: Vom Studenten bis zum vermögenden Geschäftsmann, von der sechsfachen Mutter bis zum arbeitslosen Senior haben uns völlig unterschiedliche Menschen mitgenommen.

Trampen ist abwechslungsreich, denn es gibt immer verschiedene Wege zu einem Ziel. Und oftmals landet man abends an einem anderen Ort, als man es sich morgens erträumt hätte. Und das wichtigste: Durch Trampen kann man tief in die Gesellschaft eines Landes eintauchen. Zwar gibt es mit den Fahrern auch mal oberflächliche oder rein sachlich-informative Gespräche, doch bei vielen, manchmal stundenlangen Fahrten kommen sehr intensive Dialoge zustande. Im Wissen, sich vermutlich nie wieder zu begegnen, redet mancher dann sehr ausführlich über seine Ideen, sein Leben, seinen Alltag, seine Probleme und Sorgen. Da ist „de‘ Ralf“, ein Kölner , der mit der Geliebten eines Immobilienhais durchbrannte und sich jahrelang verstecken musste; der 65jährige Däne Mads, der seit einigen Jahren arbeitslos ist und noch einmal Bestätigung sucht; oder Andrea aus Wismar, die uns erzählt: „Ich habe meinen Mann beim Trampen kennengelernt“. Seit 20 Jahren leben sie zusammen, und obwohl er sie einst selbst an der Straße aufgegabelt hatte, riet er ihr danach immer wieder vom Trampen ab. Es sind vor allem diese vielen unvorhersehbaren Ereignisse und Begegnungen, die das Trampen so spannend machen.

 

Info: Wie trampe ich am besten?

Etwas Planung im Voraus erhöht die Chancen erheblich. Anhang einer Karte oder durch gezieltes Nachfragen sollte man in Erfahrung bringen, wo es zur gewünschten Autobahn oder Straße geht und wo in der Nähe der bestmögliche Ausgangspunkt ist. Dabei stets selbst mitdenken, denn nicht immer sind vermeintlich gut gemeinte Ratschläge von Ortskundigen auch aus Trampersicht geeignet. Die besten Plätze, um mitgenommen zu werden, sind stark frequentierte Rastplätze oder Tankstellen, bevorzugt an der Autobahn. Auch Autobahnauffahrten sind geeignet, wenn sie genügend Raum zum Anhalten bieten. Ein Schild erhöht die Chancen der Mitnahme. Freundlichkeit – auch im Fall einer Abfuhr – gehört zum guten Ton der Tramper.

Info: Wie erhöhe ich die Sicherheit?

Jeder Tramp-Interessierte muss sich klar machen: Es gibt niemals eine absolute Sicherheit, wenn man zu fremden Menschen ins Auto steigt. Das direkte Ansprechen von Personen an einer Tankstelle oder einem Rastplatz erhöht die Sicherheit, da man sich gezielt Personen aussuchen und einen ersten Eindruck von ihnen gewinnen kann. Vor der Fahrt kann das Kennzeichen des Autos per SMS an eine Vertrauensperson weitergegeben werden, worauf man den Fahrer hinweisen sollte. Mehr Tipps unter http://hitchwiki.org/de/Sicherheit.

Info: Internet-Tipps

Mehr Informationen und Tramper-Tipps gibt es unter www.anhalterfreunde.de. Eine internationale Plattform für Tramper ist die Seite www.hitchhiker.org, wo auch viele kostenlose Mitfahrgelegenheiten angeboten werden. Eine weitere interessante Seite ist www.hitchwiki.org.

Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.