„Ich setze meine Kinder nicht in so ein Boot“

Wie syrische Flüchtlinge in der türkischen Grenzregion leben

In: Luxemburger Wort, 16. Januar 2016
Text und Fotos: © Michael Merten

In der Region um Antakya, der arabischsten Stadt der Türkei, leben seit Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland viele syrische Flüchtlinge – in höchst unterschiedlichen Situationen: Einige sind vergleichsweise gut integriert, andere leben in Armut. Ein Lagebericht aus dem Grenzgebiet zu Syrien.

Mit einem schüchternen, doch freundlichen Lächeln serviert Reem dem Reporter einen türkischen Kaffee und ein Wasser. Lange hat die 23-Jährige keine Gäste mehr bewirtet – seit sie vor drei Jahren mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern aus Syrien geflohen ist. Jetzt wohnt sie in Apaydin, einem kleinen türkischen Dorf nur wenige Kilometer von der Grenze zum Kriegsgebiet entfernt. „Das ist schon das neunte Haus, in dem wir Untermieter sind“, berichtet sie. Ihr Mann kommt täglich raus, er hat Gelegenheitsjobs als Maler; für Reem gibt es nur die bescheidene Wohnung und ihre Kinder. Bis auf den monatlichen Besuch bei ihrem Bruder, der im gleichen Dorf wohnt, hat sie kein Sozialleben.

Nur rund 25 Kilometer entfernt lebt ebenfalls eine syrische Flüchtlingsfamilie – doch sie nimmt deutlich stärker am gesellschaftlichen Leben des Gastlandes teil. In Antakya, der mit rund 200.000 Einwohnern nächsten Großstadt zur syrischen Grenze, trifft sich die Mittdreißigerin Latifa mit einigen Freundinnen in der neuen, modernen Shoppingmall. Die türkischen und syrischen Frauen haben ihre Kinder von der Schule abgeholt und treffen sich zum Kaffee. Das Leben, es geht in der Hauptstadt der Grenzprovinz Hatay seinen ruhigen Gang – in einem Land, das in den vergangenen Monaten kaum noch zur Ruhe gekommen ist.

Heftige Kämpfe zwischen türkischer Armee und kurdischer PKK fordert in den weiter östlich gelegenen Regionen der Türkei hunderte Opfer. Hinzu kommen furchtbare Anschläge der IS-Terrormiliz, aktuell etwa im Herzen Istanbuls. Auch im Südosten der Türkei, im Grenzgebiet zu Syrien, hat es schon tödliche Attacken gegeben – etwa zwei Autobomben-Attacken in Reyhanli, der letzten türkischen Stadt direkt an der Grenze, wodurch im Mai 2013 mindestens 50 Menschen starben.

Vom Terror ist in den Straßen nichts zu spüren

Doch geht man Mitte Januar durch die Straßen von Reyhanli, bummelt man durch die Gassen des rund 40 Kilometer entfernten Antakya, so ist von großer Angst vor dem Terror nichts zu spüren. Trotz regnerischem Winterwetter schlendern die Menschen durch die Straßen der stark arabisch geprägten Altstadt, essen in den Cafés gemütlich die lokale Süßspeise Künefe. „Es ist ruhig hier, aber das liegt auch an den vielen Polizeistreifen“, sagt der italienische Pater Domenico Bertogli, seit 1987 Pfarrer der nur rund 100 Köpfe zählenden katholischen Pfarrgemeinde von Antakya. Wegen der Nähe zum Bürgerkriegsland Syrien kommen deutlich weniger Pilgergruppen in die antike „Königin des Orients“, wo Petrus und Paulus wirkten; „in Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen“ (Apostelgeschichte 11,26), heißt es in der Bibel.

Der Pater warnt zwar vor Reisen in die unmittelbare Nähe zur Grenze, doch Antakya sei verhältnismäßig sicher, wenn man sich vorsichtig verhalte. Weil seit jeher viele Araber dort leben, sind die Syrer keine Fremdkörper; sie können sich sprachlich und kulturell mit den Türken verständigen. Im ganzen Land leben nach aktuellen Schätzungen 2,2 Millionen Syrer, Tendenz steigend. Hunderttausende halten sich vermutlich im Südosten der Türkei auf, wo es allein 24 Flüchtlingscamps gibt. Dort leben vor allem die mittellosen Familien; wer Geld hat, der sucht sich eine Wohnung in der Stadt oder in den vielen Dörfern. Die türkischen Behörden und viele Hilfsorganisationen können keine richtige Integration leisten –es gibt lediglich Verpflegung, eine kostenlose Gesundheitsversorgung, Schulbildung. Künftig sollen Flüchtlinge offiziell auch arbeiten dürfen.

Das war bislang nur mit Erlaubnis möglich – doch faktisch sind die Syrer längst ein wichtiger Faktor auf dem Arbeitsmarkt, trotz einer kriselnden Wirtschaft, die unter dem Rückgang des Tourismus, vor allem aber unter dem Wegbrechen der Handelsrouten leidet, die allesamt durch Syrien führten. Reems Mann hat sich mit Gelegenheitsjobs als Maler durchgehangelt; das tägliche pendeln kostet viel Geld. Die Familie ist daher bei Nachbarn verschuldet. Arbeiten weit unterhalb des einheimischen Lohnniveaus, Kinderarbeit, Kriminalität – das sind Schattenseiten der Flüchtlingssituation. Viele junge Frauen müssen sich zudem prostituieren oder werden mit oftmals älteren Einheimischen verheiratet.

EU will die Grenzen immer mehr abschotten

Während die EU ihre Grenzen zur Türkei immer mehr abschotten will, lässt die türkische Regierung nach wie vor viele Flüchtlinge einreisen. Syrer erhalten während der Dauer des Krieges einen temporären Schutz, sie dürfen offiziell nicht abgeschoben werden. Aktuelle Recherchen der ARD belegen jedoch, dass systematisch Flüchtlinge nach Syrien zurückgedrängt wurden. Über die rund 900 Kilometer lange „grüne Grenze“ zu gelangen, wird immer gefährlicher, und an den offiziellen Checkpoints wird bisweilen eine restriktive Politik gefahren.

Die Kontrollen an den Grenzen, sagt Raed Al-Masri; sind seit den Erfolgen der IS-Terrormiliz viel strenger geworden. Der Manager von „Syria Relief“ leitet ein Hilfsprojekt im türkischen Reyhanli, wo Kriegsopfer kostenfreie Prothesen erhalten. „Es ist sehr schwierig geworden; wir haben Patienten, die vier, fünf Tage an der Grenze warten, bis sie von den Behörden reingelassen werden“, so Al-Masri.

Latifas Traum

Das Leben in der Türkei ist für viele Syrer aufgrund widriger Umstände nur eine Zwischenstation. Latifas Traum etwa ist es, in England leben und arbeiten zu können; die Frau, die wie damals in Syrien als Englischlehrerin an einer Schule arbeitet, berichtet, dass die Familie ihrer Schwester im Sommer die gefährliche Flucht nach Europa gewagt hat. Sie leben nun friedlich in einer deutschen Kleinstadt, haben hilfsbereite Nachbarn. „Manchmal denke ich, wir hätten mitgehen sollen“, denkt Latifa. Doch dann sagt sie: „Ich setze meine Kinder nicht in so ein Boot.“

Längst nicht alle Flüchtlinge wollen nach Europa: Viele sehnen sich vielmehr nach einer Zukunft in der Heimat. Auch Reems Angehörige, die mit in die Türkei gekommen waren, kehrten nach wenigen Wochen zurück nach Syrien. „Sie fühlten sich nicht wohl“, sagt Reem. „Inschallah“ – wenn Gott will, dann wohnt sie hoffentlich bald wieder in ihrem Heimatort Idlib bei Aleppo. „Ich vermisse meine Familie; ich habe seit drei Jahren keinen mehr gesehen“, sagt die Frau, räumt die leeren Kaffeetassen auf ihr Tablett und verabschiedet den Besuch mit ihrem schüchternen Lächeln.

Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.