Das Telefon klingelt. Ich nehme ab, grüße, dann eine kurze Stille; ich bin in Lauerstellung. Weil ich nicht lange um den heißen Brei herumreden will, frage ich: Ist das hier die freundliche Art, mich darauf vorzubereiten, dass nachher der Postbote klingeln wird mit einem Einschreiben?
Doch es trifft mich nicht. Der Kelch zieht an mir vorüber. Ich muss mir keinen neuen Job suchen.
Erleichterung. Ein kurzer Moment der Freude. Ich schicke Nachrichten der Entwarnung an Freunde und Verwandte, die mit mir gebangt haben.
Ein Blick in unseren Teams-Kanal. Vordergründig: Business as usual. The show must go on. Themen müssen eingetütet, Texte geschrieben und redigiert werden, mein Leitartikel für morgen wartet. Das Tagesgeschäft einer Zeitung schafft Struktur. Lässt wenig Spielraum für Sentimentalität.
Wir diskutieren, planen, schreiben. Doch nichts ist heute, wie es sonst ist. Der Flurfunk ist digital geworden, die Redaktion ist ja im Homeoffice. Wer jetzt gehen muss, dem bleibt immerhin der analoge Abgang vor aller Augen erspart.
Damals war das so, bei der ersten großen Entlassungswelle vor knapp zehn Jahren. Da wurden die Malocher aus der Druckerei nach oben gerufen und betraten die Flure der Anzugträger. Es war der finale, unsichere Gang in eine fremde Welt, flankiert von den mitleidigen Blicken der Kollegen. Papiere in die Hand, eine Abfindung, dann Abtritt. Keine große Szene, wenn man einer von Hunderten ist.
Nun sind es knapp 70 Betroffene. Gestern sind die Briefe verschickt worden. Heute kommen die ersten Einschreiben an. Ein Kollege postet, dass der Briefträger an seinem Haus vorbeigegangen ist. Heute zumindest… Andere haben da schon die traurige Gewissheit.
Erste Namen sickern durch. Vorsichtig taste ich mich vor, tausche mich mit meinem engeren Umfeld aus. „Ein sehr schwarzer Tag heute…“, schreibt mir eine Kollegin. „Ich hoffe du hast noch keinen Brief bekommen.“ Das haben wir beide nicht; ich bin erleichtert. „Bist du safe?“, fragt ein anderer Mitarbeiter ohne Umschweife. Ja, wir sind es beide.
Dann habe ich die Gewissheit: Auch aus meinem Team trifft es Jemanden. Es ist ein engagierter Journalist mit Gespür, der ein Vierteljahrhundert seines Lebens in den Dienst des Verlags gestellt hat. Ein Kollege, der mich in meinen ersten Wochen geduldig begleitet hat. Der dem Laden mit Ideen und guten Texten Schwung gegeben hat. Der auch jetzt noch seinen Dienst gewissenhaft versieht, nicht lamentiert, sondern sich einbringt.
Die Offiziere der Titanic waren bis zuletzt standhaft auf dem sinkenden Schiff. Mein Kollege ist es auch, obwohl nicht das Schiff versinkt, sondern womöglich seine Existenz.
Ich drücke ihm meine Betroffenheit aus. Versichere ihm meine Wertschätzung. Ich nehme mir viel Zeit für diese persönlichen Zeilen; mein Dienst beginnt ja erst am Nachmittag. Meine Erleichterung, inmitten einer Krise nicht abgebaut zu werden, sie bleibt. Doch meine Freude ist dahin, sie wird zerfressen von jedem Namen, der zu mir durchsickert.
Wertschätzung. Das ist es, was ich den Betroffenen noch ausdrücken kann. Dankbarkeit für einen Einsatz, der oft weit über das hinausging, was im Vertrag erwartet wurde.
Wertschätzung. Das ist es, was wir für unsere Arbeit erwarten. Entlassen zu werden ist hart. Vielleicht noch härter das erniedrigende Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Dabei brauchen wir diese Kolleginnen und Kollegen. Doch die Krise hat Millionenlöcher in die Kassen gefressen. Es ist eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit.
Wertschätzung. Das ist es, was ich für meinen Berufsstand erwarte. Journalismus ist mehr als das Weitergeben von schnellen Informationen. Journalismus bedeutet Einordnung. Abwägung. Analyse. Nachhaken. Nachbohren. Unbequem sein. Den Ungehörten eine Stimme geben. Den Mächtigen auf die Finger schauen. Wir schaffen das nicht immer. Wir scheitern an unseren Idealen. Doch wir lernen aus unseren Fehlern.
Wertschätzung. Das ist es, was ich von den Leserinnen und Lesern tatsächlich erfahre. Sie honorieren es, wenn wir uns Expertise erarbeiten, uns in Themen hineinknien. Monatelang an Stories sitzen.
Wir messen in diesen Krisenzeiten die steigenden Zugriffsraten auf die Früchte unserer Arbeit. Wir auf schmerzhafte Art müssen wir erfahren, dass immer weniger Menschen bereit sind, diese Arbeit mit einem Abo zu unterstützen. Anerkennung mischt sich mit Unverständnis über Bezahlschranken.
Unser Verlagsschiff hat sich deshalb entschlackt, hat Mitarbeiter am nächsten Hafen abgesetzt. Wir sind nun wohl erstmal halbwegs sicher auf den stürmischen Weltmeeren eines Journalismus, der eine gewaltige Schlagseite bekommen hat.
Wir winken den Kolleginnen und Kollegen traurig nach und fahren mit verkleinerter Mannschaft weiter. Der Dienst ruft. Ich kehre zurück in den Betriebsmodus. Der entlassene Kollege macht es mir vor.