Wie zwei Ordensfrauen gegen eine grausame Tradition ankämpfen
In: Wochenzeitung Paulinus, 14. September 2014
Von Michael Merten
Ein 18-Jähriger Albaner lebt unter den Vorzeichen der Blutrache: Jeder Schritt vor die Tür kann sein letzter sein. Zwei unerschrockene Ordensfrauen versuchen, den unheilvollen Zyklus der Gewalt zu durchbrechen.
Zügig treten Schwester Christina und Schwester Michaela in das Haus von Ardits Familie ein. Möglichst schnell soll sich die Tür, jene Schranke zur feindlich gesinnten Außenwelt, wieder schließen. Der 18-jährige Ardit, seine beiden Schwestern, die Eltern – die ganze Sippe lebt in Blutrache. Ein Bote aus dem gegnerischen Clan hat kürzlich die Nachricht übermittelt, dass Ardit, die Zukunft der Familie, zum Opfer auserkoren wurde. Sobald er das kleine Haus im Zentrum von Shkodre verlässt, läuft er Gefahr, niedergestreckt zu werden.
Ardits Mutter Mri fällt den Besucherinnen herzlich um den Hals, sie ringt mit der Fassung. Dann serviert sie Kaffee und Orangensaft. Es scheint sie zu beschämen, dass es Getränke sind, die ihre Gäste bei früheren Besuchen selbst mitgebracht haben. Doch die Wiedersehensfreude überwiegt. Schließlich sind die 57-jährige Deutsche Maria Christina Färber und die 51-jährige Schweizerin Michaela für Mri die wichtigsten Verbündeten bei dem Versuch, ihrer Familie ein Stück Zukunft zu sichern.
Christina, eine gelernte Krankenschwester, und die frühere Buchhalterin Michaela leben in Shkodre, der wichtigsten Stadt im nördlichen Albanien. Ihr Orden der Spirituellen Weggemeinschaft mit Hauptsitz im Schweizerischen Rheinau hat dort 2004 ein kleines Kloster mit Spital gebaut. Mit Unterstützung des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis konnten sie kürzlich einen Kindergarten mit 74 Plätzen fertigstellen – Refugien für Verfolgte, Behinderte, Schwache und Kranke. Nicht nur Korruption, Missstände im Bildungs- und Gesundheitswesen und Gewalt gegen Frauen sind drängende Probleme in Albanien, das Papst Franziskus am 21. September als erstes europäisches Land besucht.
in drei Jahren 45 Morde wegen Blutrache
Die dortigen Nonnen müssen auch gegen eine jahrhundertealte Tradition ankämpfen: Angehörige der katholischen Minderheit im muslimisch dominierten Albanien bauen bisweilen noch auf den Kanun, einen archaischen Verhaltenskodex, der auch Fragen der Rache regelt. Nach einer Studie von „Justitia et Pax“ – einer Art „Runder Tisch“ der katholischen Einrichtungen und Organisationen, die im Bereich der internationalen Verantwortung der Kirche in Deutschland tätig sind – wurden zwischen 2006 und 2008 im nördlichen Albanien 45 Morde aufgrund von Blutrache verübt.
„Die Blutrache ist hier ein Baum mit Wurzeln, hundertmal stärker als die christlichen Wurzeln“, sagt Sokoll, einer der engsten Freunde der Ordensfrauen. Seine Sippe lebt seit 1983 in Unfrieden: „Das Blut kam über uns, und wir haben gelebt wie die Wilden“, erinnert er sich. Jahrelang war der 50-Jährige auf der Flucht, versteckte sich vor den Feinden. 2013 wurde sein Bruder erschossen. Sokoll, der jetzt erneut Rache nehmen müsste, will den Kreislauf des Todes durchbrechen. Die meisten Verwandten halten ihn deshalb für unehrenhaft und schwach.
Letzter Ausweg Ausland
Manche erwarten jetzt auch von Ardit, „Blut zu geben“. Er erinnert sich noch gut, wie er an einem Tag im Jahr 2007 Fußball spielte, als die furchtbare Nachricht kam: Sein Onkel hatte einen Mann umgebracht. Ihm war sofort klar, dass seine unbeschwerte Jugend schlagartig zu Ende sein würde. Der Täter kam zwar ins Gefängnis, wurde aber nach sechs Jahren entlassen und floh wie fast der gesamte Clan ins Ausland.
Das versuchte auch Ardits Familie im vergangenen Jahr, doch aus Schweden wurden sie ausgewiesen. Dieser letzte Versuch, einen Ausweg zu finden, kostete all ihre Ersparnisse. Die Pension des Vaters reicht zum Leben längst nicht aus. Christina und Michaela haben daher eine Wohnung besorgt.
Als Ordensfrauen genießen sie in der patriarchalischen Gesellschaft Respekt – und vermitteln oft zwischen verfeindeten Clans. Größeren Einfluss hätten Priester, doch Schwester Michaela beklagt: „Es gibt nicht genug Geistliche, die mit den Männern reden, ihre Probleme besprechen können.“ Also nehmen es die Schwestern selbst in die Hand. „Da war manch ein Priester käseweiß, weil ich allein zu Blutrache-Familien gehe“, erzählt Christina.
Ardits Vater sah vor Jahren einen Ausweg. Verzweifelt berichtet er, wie auf die Straße ging, sich dem feindlichen Clan als Opfer anbot. „Ich habe ihnen gezeigt: Hier bin ich, nehmt mich! Doch sie wollen junges Blut fließen sehen.“ Ardit selbst seufzt: „Es ist schrecklich, ich kann nichts dagegen tun.“ Er hat nur noch einen Halm, an den er sich klammert: die vage Aussicht auf ein Studienstipendium in den USA. Derweil versuchen die Nonnen weiterhin, zwischen den Feinden zu vermitteln. Resignieren wollen sie nicht. Ihre wichtigsten Waffen sind Zuwendung. Und viel, sehr viel Geduld.