„Das Pilgern ist wie eine innere Goldmedaille“

Pastoraltheologe über die verschiedenen Typen von Pilgern

In: Domradio.de, 26.12.2016

Den typischen Pilger? „Den gibt es nicht“, sagt der Trierer Theologe Martin Lörsch, Mitautor des Buches „Abenteuer Pilgern“ von der Sankt Jakobusbruderschaft. Die Menschen würden sich aus den verschiedensten Gründen auf den Weg machen. Welche das sind, erzählt er im Interview.

KNA: Was ist die erstaunlichste Erkenntnis, die Sie durch die Arbeit an ihrem Buchprojekt zu Thema „Pilgern“ gewonnen haben?

Martin Lörsch: Für mich persönlich ist es vor allem die Vielfalt der Motive, warum jemand den Jakobsweg geht. In dem Buch sind diese unterschiedlichen Typen dargestellt. Die Forschungsergebnisse enthalten wichtige Hinweise für die Verantwortlichen für Pilgerseelsorge entlang des Jakobswegs. Diese können ein besseres Gespür für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen auf dem Weg entwickeln und ihre Angebote zielgenauer anbieten.KNA: Den einen typischen Pilger gibt es nicht?

Lörsch: Den gibt es nicht. Hinzu kommt, dass das Pilgern auf dem Jakobsweg immer internationaler wird. Im Jahr 2016 sind Menschen aus 136 Ländern in Santiago de Compostela angekommen, sogar Fußpilger aus der Mongolei oder aus Haiti.

KNA: Welche Typen an Pilgern haben Sie denn ausgemacht?

Lörsch: An erster Stelle möchte ich den spirituellen Typus nennen, der vor allem der eigenen Sehnsucht folgt. Er steht stellvertretend für die modernen Sinnsucher, die aus einer spirituellen Motivation aufbrechen, aber nicht mehr unbedingt kirchlich gebunden sind, vielleicht sogar nie mit Kirche in Kontakt gekommen sind. Vor einiger Zeit habe ich die Pilgerin Sandra aus der Region Magdeburg beherbergt. Sie sagte zu mir: Ich bin nicht getauft, aber ich habe mich auf den Weg gemacht, weil mich der Jakobsweg begeistert hat und ich etwas in meinem Leben verarbeiten will.

KNA: Und die zweite Sorte Pilger?

Lörsch: Der zweite Typus ist der kirchlich gebundene Pilger. Für ihn spielen Motive wie Umkehr, Buße und Neubeginn eine große Rolle. Ich erinnere mich an einen Pilger, dem klar geworden war: Ich habe eine falsche Berufsentscheidung getroffen. Mit dem Aufbruch will ich einen Cut machen, und nach der Rückkehr beginne ich einen neuen Lebensabschnitt. Dieser Pilger erzählte, dass er vor dem Start auch zur Beichte gegangen ist. Für Menschen wie ihn ist der Weg wie ein Reinigungsritual mit einem unterscheidbaren Vorher und einem Nachher.

KNA: Welche Gruppen haben Sie noch identifiziert?

Lörsch: Der dritte Typus ist jener Pilger, der auf dem Camino die Begegnung mit Land und Leuten, mit Natur und Kultur genießt. Er geht den Weg zu Fuß oder pilgert mit dem Rad, nutzt aber auch die Annehmlichkeiten wie den Gepäcktransport. Er übernachtet heute in der normalen Herberge und teilt sich das Zimmer mit zehn anderen Personen und gönnt sich für die nächste Nacht den Luxus eines gepflegten Hotels, nachdem er mit Freunden gut zu Abend gegessen und sich eine Flasche Rotwein gegönnt hat.

Dann gibt es viertens den Spaßpilger. Dieser ist vor allem bei jungen Leuten nach dem Abitur zu finden. Und schließlich die fünfte Gruppe: der „Sportpilger“, das sind vor allem Männer. Ihnen geht es darum, die eigenen Belastungsgrenze zu erkunden. Manche von ihnen laufen bis zu 50 Kilometer und mehr am Tag. Ich habe den Eindruck, dass sie vor allem über die Grenz- und Schmerzerfahrungen mit dem eigenen Körper in Kontakt treten. Ein ganz spannendes Thema für die Männerseelsorge!

KNA: Sind denn außer dem religiösen Pilger auch die anderen Gruppen offen für kirchliche Angebote?

Lörsch: Ja, unbedingt! Aber manche wollen das diskret behandelt wissen. Sie wollen dabei nicht beobachtet werden. Manche von ihnen kehren in eine Kirche ein, verweilen dort oder stellen eine Kerze auf und lassen diese für sich beten. In den Begegnungen auf dem Pilgerweg habe ich nur wenige Menschen kennengelernt, bei denen sich innerlich nichts verändert hat. Die Mehrzahl ist auf dem Weg mit ihren tiefen Schichten der Sehnsucht, der Spiritualität in Kontakt gekommen.

Daher bin ich überzeugt, dass auch kirchenferne Pilger von der Faszination der Liturgie und der kirchlichen Bräuche angerührt werden. Die Begegnung mit dem Heiligen im Kirchenraum, das Erleben der Messe mit der Urgeste des Brotbrechens, die Faszination des Lichts, der Geruch des Weihrauchs können sich als Gelegenheit der Gotteserfahrung erweisen.

KNA: In dem Buch wird auch die Frage des subjektiven Wohlempfindens nach einer Pilgerschaft gestellt.

Lörsch: Das Interessante ist, dass dieses Wohlbefinden mit dem stolzen Gefühl, das Ziel erreicht zu haben, von den Pilgern als ein Wert wahrgenommen wird, der in einer Langzeitstudie auch nach Jahren noch nachgewiesen werden kann. Viele Pilger sind bis zu ihrem Lebensende stolz, dass sie ihren inneren Schweinehund besiegt, ihre Schmerzen und Pein überwunden haben. Das ist etwas, das bleibt – wie eine innere Goldmedaille.

KNA: Sie haben auch Wallfahrer und Pilger miteinander verglichen. Was sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten?

Lörsch: Wallfahrer sind meist in Gruppen unterwegs und haben eine stärkere kirchliche Bindung, ihre Religiositätswerte liegen deutlich höher als bei Pilgern. Im Bereich der Spiritualität werden die Grenzen jedoch flüssig, da nähern sich beide Gruppen an. Pilger sind individueller, aber unsere vergleichende Untersuchung zwischen Jakobspilgern und Teilnehmern der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 zeigt, dass der Aspekt der Gemeinschaft in beiden Formaten eine Rolle spielt.

Bei den Wallfahrern ist es eher der Wunsch, diese Erfahrung der Gemeinschaft in seiner Pfarrgruppe, seiner Frauengemeinschaft, seinem Jugendverband zu teilen. Aber auch bei den Jakobspilgern gibt es den Wunsch nach einer neuen Vergemeinschaftung auf dem Weg, möglichst über die eigenen Kultur- und Sprachgrenzen hinweg. Eine solche Gemeinschaft kann flüchtig sein und sich auf den gemeinsam zurückgelegten Pilgerweg beschränken. Sie kann auch in eine dauerhafte Freundschaft einmünden wie bei Hape Kerkeling und seiner Freundschaft mit der englischen Wissenschaftlerin Anne Butterfield.

Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.