Die Menschen sind nicht das Problem

Teil III des Radreiseberichts Trier – Rom – Athen – Jerusalem

In: Onlinemagazin www.16vor.de, 24. September 2013

Nach rund 4000 Kilometern ging die Radreise des Trierers Michael Merten nach Israel zu Ende. Im dritten und letzen Reisebericht für 16vor schildert er, wie alte Vorbehalte bröckeln – etwa die Vorurteile zu den Siedlern im Westjordanland, nachdem er “echte” Siedler kennengelernt hat, die so gar nicht dem medialen Klischee entsprechen. Er erzählt, wie wenig seine deutsche Herkunft im Staat der Juden eine Rolle gespielt hat und wie herzlich er an Stränden und Campingplätzen aufgenommen und mit Eintopf und Grillgut versorgt wurde.

Israel ist, das habe ich bereits erwähnt – aus europäischer Sicht betrachtet – zunächst einmal ganz anders. Anders aus der Sicht eines Radreisenden, anders im Hinblick auf die immensen Sicherheitsvorkehrungen. Und doch – so ganz anders ist Israel eigentlich auch wieder nicht. Vieles ist einem doch sehr vertraut. Das zeigt sich schon an den Etappen meiner Route: Tel Aviv, Caesarea, Haifa, Akko, Nazareth, Tiberias am See Genezareth, Jordantal, Nablus, Jerusalem, Bethlehem und dann wieder zurück nach Tel Aviv– fast alle diese Orte sind im kollektiven Gedächtnis verankert, da aus der Bibel bekannt. Auch wenn es nicht immer einfach ist, sie zu erreichen, weil sie im Westjordanland liegen.

Ich muss zugeben: Nach den herzlichen Erfahrungen mit den Palästinensern fiel es mir zunächst schwer, im ewig währenden Nahostkonflikt neutral zu bleiben. Ich verhehle nicht, in diesen Tagen eine gewisse Sympathie für die Sicht der Palästinenser gewonnen zu haben. Das heißt jedoch nicht, dass ich mich ganz auf ihre Seite geschlagen hätte. Denn nachdem ich in den ersten Tagen, unter dem Eindruck der für mich ungewohnten Sicherheitsbestimmungen und Restriktionen, mit Israel noch etwas gefremdelt habe, wird mir im Lauf der Zeit immer mehr bewusst, wie sehr alte Vorbehalte bröckeln und mir Land und Leute immer vertrauter werden. Noch während ich im Westjordanland bin, entdecke ich eine unbekannte, aber aufschlussreiche Facette Israels. Nicht weit von Ramallah entfernt, entlang der Straße 60 nach Jerusalem, gönne ich mir eine Tasse Kaffee an einer Tankstelle. Sie gehört zu der jüdischen Siedlung Ofrah, und ich komme ins Gespräch mit der Familie Meggido. Ich hätte nicht mehr damit gerechnet, echte “Siedler” zu treffen – Menschen, die in einem völkerrechtlich den Palästinensern zugesprochenen Gebiet leben. Menschen, deren Lebenskonzept bei mir nicht unbedingt auf Gegenliebe stößt, denen ich aber, das nehme ich mir fest vor, mit Höflichkeit begegnen möchte.

Zu Gast bei einer Siedlerfamilie

So entsteht ein Gespräch über das Leben in dem von Stacheldraht umgebenen 500-Familien-Ort. Familie Meggido, deren Sohn Dvir an diesem Tag seine Bar Mizwa (Erreichen der religiösen Mündigkeit) feiert, hat nichts mit den klischeehaften Siedlerfamilien, die man aus dem Fernsehen kennt, gemein und eignet sich nicht wirklich als ein Feindbild. Im Gegenteil: Sie sind sehr umgängliche Menschen, die mich kurzerhand einladen, mit ihnen zum kommunalen Schwimmbad zu kommen, wo sie die Wiese für die abendliche Zeremonie vorbereiten. Sie haben eine differenzierte Sichtweise auf die Siedlungsproblematik und überraschen mich mit der Aussage, dass sie in früheren, friedlicheren Zeiten sehr oft bei den palästinensischen Nachbarn in Ramallah eingekauft hätten.

Jene Gastfreundschaft, wie ich sie bei den Palästinensern erlebt habe, wird mir auch in Israel sehr oft zuteil. Schon am ersten Abend nach meinem Aufbruch von Tel Aviv erlebe ich eine große Herzlichkeit, als ich nördlich von Caesarea nach einem Schlafplatz suche und mich Yair, ein Mittzwanziger aus Haifa, spontan einlädt, mit ihm und seinen Kumpels in einem Zelt am Strand zu übernachten. Auch am Jordanfluss, wo ich für drei Tage zelte, ist mein Teller nie leer, bekomme ich gleich von mehreren Nachbarn Poike (ein traditionell im Kessel gekochter Eintopf) und Grillgut serviert. Die meisten Menschen, auf die ich treffe, sind sehr angenehme Zeitgenossen, die einen differenzierten Blick auf die Nahost-Problematik haben, Premier Netanjahus aggressive Politik ablehnen und sich von der Intoleranz manch ultraorthodoxer Gruppen distanzieren. Ich gewinne den Eindruck, dass Israelis und Palästinenser in der großen Mehrzahl viel weiter sind als ihre Regierungen. Nicht die Menschen sind das Problem, sondern eine Politik, die auf Macht, Stärke, Abschreckung und Repressionen setzt. Die Menschen, vor allem die Jüngeren, sind bereit für ein friedliches Mit- oder wenigstens Nebeneinander. Das gibt mir ein wenig Anlass zur Hoffnung.

Herkunft als Deutscher spielt keine Rolle

Was erstaunlicherweise nur eine Neben-, meistens aber überhaupt keine Rolle spielt, ist meine Herkunft als Deutscher. Nur ein einziges Mal kommt es zu einer für mich unangenehmen Situation, und selbst dann ist es humoristisch gemeint – auch wenn ich selbst nicht so sehr über diesen Humor lachen kann. In einem Laden erfährt der Verkäufer, dass ich Deutscher bin, und will mich mit einer Kostprobe seiner Sprachkenntnisse beeindrucken. “Ah, Deutschland…”, sagt er und brüllt anschließend laut “Judenschweine” durch den Raum, bevor er in schallendes Gelächter ausbricht. Ich zwinge mich zu einem gequälten Lächeln. Doch der Mann bleibt die absolute Ausnahme. “Yes, Germany – ich war mal in Berlin”, ist eine häufige Reaktion vieler Israelis. Sie wissen es zu schätzen, wie Deutschland mit seiner Vergangenheit umgeht: “Ihr habt aus euren Fehlern gelernt und euch aufrichtig entschuldigt, das ist okay”, sagt mir ein Gesprächspartner. Ich trage persönlich keine Schuld an den Verbrechen der Nazis, sehe mein Volk aber in einer besonderen Verantwortung und auch Verbundenheit zu dem Staat, der aus den Schrecken der Schoah hervorgegangen ist.

Auch am Ziel meiner Reise, in Jerusalem, ist die dunkle deutsche Vergangenheit präsent. Der Besuch in Yad Vashem geht mir sehr nahe; mehr noch als die Exponate sind es die per Video aufgezeichneten Erinnerungen von KZ-Überlebenden, die mich tief bewegen. Ein alter Mann, dessen Namen ich leider nicht weiß, erinnert sich in einem Video an die grausame Stunde zurück, als sein neben ihm stehender Vater auf dem Appellplatz zusammenbricht. Der Mann schildert mit eindringlichen Worten diesen furchtbaren Moment: “Ich wusste: Wenn ich mich zu ihm hinunterbeuge und ihm helfe, erschießen sie mich. Also habe ich mich nicht bewegt. Aber es ist doch die Pflicht eines Sohnes, seinem Vater zu helfen! Dafür schäme ich mich seit diesem Tag.” Die Geschichte dieses alten Mannes bewegt mich bis heute: Er, das Opfer, fühlt sich bis zum heutigen Tag schuldig!

In Jerusalem ist meine Tour fast zu Ende. Vom Ölberg aus habe ich einen phantastischen Blick auf die Stadt und denke an den langen Weg hierher. Jetzt bloß nichts verklären! Denn es gibt ja wirklich solche Tage… Etwa bei der Abfahrt vom berühmten Berg der Seligpreisungen zum Nordufer des See Genezareth. Erst fange ich mir einen Platten ein. Dann quäle ich mich bei 45 Grad in südlicher Richtung wieder aus dem Tal heraus, und es ist unheimlich frustrierend, als mir nach 200 Höhenmetern ein Schild mitteilt, dass ich jetzt gerade einmal die Meeresoberfläche erreicht habe. Auf dem Feld neben der Straße blickt mich eine Kuh lange an, und ich bilde mir ein, dass sie mich fragt: “Was soll das da eigentlich?” Vielleicht gar nicht so blöd, die Kühe von Israel. Und kurze Zeit später verliert auch noch der Hinterreifen seine Luft. Wie schön, dass gerade jetzt mein einstmals großer Vorrat an Ersatzschläuchen aufgebraucht ist!

60 Tage, fast 4.000 Kilometer

Nach 60 Tagen und 3.920 Kilometer auf dem Rad stehe ich wieder am Flughafen Tel Aviv. “Was war der Zweck Ihres Besuches?” fragt mich die Sicherheits-Mitarbeiterin vor dem Checkin zum Rückflug. Diesmal bin ich gut vorbereitet, bin auf das Schlimmste gefasst. Mein Rad ist provisorisch in einen Karton verpackt, ich bin schon am späten Abend vor dem Flug (Boarding Time 4 Uhr morgens) am Flughafen angekommen. “Ich habe eine Radreise gemacht”, antworte ich kurz und bündig, um eine lange Diskussion zu umgehen. Ich rechne mit weiteren Fragen wie: Was haben Sie im Westjordanland gemacht? Was ist das für arabische Kleidung in ihrem Gepäck? Doch zu meiner Überraschung bin ich nach einigen wenigen Fragen schon bei der Gepäckkontrolle. Auch hier geht es verblüffend schnell. Die freundliche junge Mitarbeiterin schleust mich mit dem Fahrrad an der Warteschleife vorbei und beginnt, das aus dem Karton herausragende Pedal mit Folie zu verpacken. Donnerwetter, das hätte ich nicht erwartet! “Wenn Sie freundlich zu uns sind, sind wir auch freundlich zu Ihnen”, sagt die Frau und lächelt mir zu.

Bald sitze ich im Flugzeug und blicke wehmütig hinab auf die Lichter der Stadt, die niemals schläft. Ich habe Israel, ich habe Palästina in mein Herz geschlossen – auch wenn beide Länder wohl noch auf lange Zeit erbitterte Feinde bleiben werden. Mir selbst hat diese Reise viel gegeben. Doch in der Summe bleiben tausende wunderbare Eindrücke, Erfahrungen und Begegnungen. Ich habe erlebt, wie wenig man doch wirklich braucht und wie kostbar die einfachen Dinge des Lebens sind. Etwa nach stundenlangem Strampeln in der Hitze von Judäa eine Flasche kalten, frischen Wassers.

Nachtrag – Zurück in Deutschland

“Kein Problem – Sie kriegen Ihre Anschlussflüge noch”, verspricht uns die optimistische Flugbegleiterin nach dem Landeanflug auf Berlin-Tegel. Doch das ist ein Flughafen, den es eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Entsprechend chaotisch sind die Abläufe, wir warten zehn Minuten auf die Ankunft einer Gangway. Es sind jene zehn Minuten, die mich den Weiterflug nach Frankfurt kosten. Zwar werde ich bald umgebucht, aber mein Fahrrad kommt erst 11 Tage später bei mir an. Aus der finalen Radtour entlang der Mosel wird also nichts. Im Zug nach Trier (mit Anschluss an Saarbrücken) verrät dann mein Sitznachbar, der Backes Hermann, dass er ja eigentlich nix gegen Fremde hat, aber die Araber – nein, also die kann er ja gar nicht ausstehen, und jetzt wollen die in Völklingen sogar eine Moschee bauen! In Trier ist alles voller Wahlplakate und Elefanten, und statt 40 sind es jetzt nur noch 20 Grad… Ich will wieder zurück! Deutschland ist so anders…

Michael Merten

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Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.