Detzem, am 25. Mai 2023
Liebe Trauergäste, liebe Familie, liebe Freunde und Bekannten, vielen Dank, dass Ihr heute zu uns gekommen seid, um Abschied von Herbert Löwen zu nehmen.
Mein Opa war nie ein Mann vieler Worte. Ich schon. Deshalb möchte ich euch in den nächsten Minuten auf eine kurze Reise durch ein Leben nehmen, das sehr typisch verlaufen ist für einen Winzer seiner Generation und das doch besonders war. Ein Leben, das auf die Schlachtfelder des Krieges führte, das einige wenige Male auch in die Weite führte, nach Lourdes etwa oder nach Schottland, das aber dennoch ganz dem Heimatort verschrieben war. Hier, in Detzem an der Mosel, war mein Großvater fast ein ganzes Jahrhundert lang verwurzelt, und auch, wenn er die letzten beiden Lebensjahre in Schweich verbracht hat, so war er doch zeitlebens ein erdverbundener Detzemer Junge, der nun in seine Heimaterde zurückgekehrt ist.
Hier wurde Herbert Löwen am 10. Februar 1926 in eine Familie von Bauern und Winzern hineingeboren. Er war der jüngste von drei Söhnen; die beiden Zwillinge Hans und Josef kamen 1921 auf die Welt.
Es war eine überschaubare, sicher auch eine idyllische Welt, die es so heute nicht mehr gibt, die in den kommenden Jahrzehnten drastische Umwälzungen erfahren sollte. Auch wenn die große weite Welt damals noch nicht Einzug gefunden hatte in die abgeschiedenen Täler der Mosel, so ließ doch ein historisches Ereignis erahnen, um wie viel schneller, vernetzter und lauter die Zeiten werden sollten. Als meine Urgroßmutter Irmine kurz vor der Geburt ihres dritten Sohnes Herbert stand, da fand am 27. Januar 1926 in England die erste Fernsehübertragung der Welt statt.
Als Herberts Eltern Irmine und Josef in den 1880er und 1890er Jahren geboren worden waren, in der Kaiserzeit, da gab es gerade mal das Telefon. In der Lebenszeit ihres Sohnes, da verlor dieses Telefon nicht nur das Kabel – übrigens sehr zur Verwunderung meiner nicht sehr technikaffinen Großmutter. Da kam es auch zur flächendeckenden Einführung von Radio, Fernsehen und schließlich dem Internet. Und wo Hans, Josef und Herbert als Kinder noch die Kuh vor den Heuwagen gespannt hatten, da waren ihre Kinder und Enkel vollends automobil. Herbert hat nur einen einzigen Führerschein gemacht – den für den Traktor.
Eine friedliche Kindheit
Die Schule war damals selbstverständlich noch im Dorf. Und was man nach der Schule so gemacht hat, das habe ich meinen Opa und meine Oma, Tante Gertrud, Onkel Alois und Tanze Irmgard im Jahr 2005 einmal gefragt. Damals haben wir ein Video aufgezeichnet: Wie et frieja woar.
„Die Jungen hunn Sau un Gamm gespillt“, hat Tante Irmgard damals von einem Spiel erzählt. Das war eine recht robuste Beschäftigung: Mit Knüppeln hat man Dosen von A nach B befördert. Baseball auf Detzemer Art. Davor haben sich die Mädchen aber lieber ferngehalten: „Du huss jo gemennt, de giffs dodgeschloen“, hat sie verraten. Und es muss auch die ein oder andere Baus gegeben haben.
Doch am liebsten haben die Jungs damals verstecken gespielt. Was für Möglichkeiten es damals gab, das lässt sich heute nur noch erahnen: Denn die Speicher der alten Winzershäuser waren Paradiese. Manchmal sind sie von einem Speicher über den nächsten von Haus zu Haus gekraxelt. “Doa kunnt’s de iewerall dorchgohn”, hat Opa Herbert erzählt, ein paar Bretter zurechtgelegt, und fertig war das Abenteuer.
Die Kirche war der Mittelpunkt des Ortes; ihr war Herbert zeitlebens eng verbunden. Die Highlights des Dorflebens, das waren zweifelsohne die paar Anlässe im Jahr, wenn es Danzmussik gab. Und natürlich war auch die Nacht auf den 1. Mai ein ganz wichtiger Tag im Kalender. Was habt Ihr denn in der Hexennacht so gemacht, habe ich damals die rüstige Gruppe gefragt. „Nummen Deiwelereien!“, hieß es da unter großem Gelächter der Seniorinnen und Senioren, die auf einmal gefühlt 60 Jahre jünger geworden waren.
Opas Schwager, Onkel Alois, hat erzählt, wie sie einmal in der Hexennacht durch das ganze Dorf gezogen sind und die Türen entfernt haben. Die Haustüren?, habe ich dann verständnishalber nachgefragt, doch es war viel pikanter: Es waren die „Scheißdieren“, präzisierte Alois, also die Türen zu den Plumpsklos, die alle außerhalb der Häuser waren. Und am anderen Morgen, als das ganze Dorf zur Kirche ging, da saßen überall die Leute auf ihren Klos und genierten sich; „se hunn joa missen“, sagte Alois lapidar.
An einen Dorfbewohner konnten sie sich noch gut erinnern, denn sein Klo lagt allzu präsent auf dem Weg zur Kirche. „Maju, wat hoat e geschreit“, so konnte sich Tante Irmgard noch genau erinnern. „Ich schloan se all freckt, wenn ich die kriejen!“
Die Mosel im Mittelpunkt
Die Mosel war seinerzeit freilich noch nicht kanalisiert. Der Fluss spielte eine viel wichtigere Rolle im Dorfleben, an seinen Ufern wurde noch gewaschen, und wenn die Frauen damit fertig waren, dann sind nicht selten die Enten darübergewatscht und sie konnten noch mal von vorne anfangen. Die Jungen sind auch immer mal wieder gerne mit den Gabeln losgezogen, um damit kleine Fische zu fangen. Unvergessen bei Oma Irma ein Moment, als der Vater mittags mit dem Essen beginnen wollte, doch da hieß es: „Ma kinnen nach net eassen, de Goabeln sinn nach ann der Musel!“
Schwimmen konnten viele Mädchen damals nicht, sie haben Kaulquappen am Ufer gefangen. Doch die Jungen sind häufiger rübergeschwommen nach Ensch. In dem Video erinnert sich der sonst eher ruhige Opa sehr lebhaft daran, dass dort, auf Schleicher Seite, zwei prächtige Kirschbäume standen. Und so schwammen die Jungs in der Kirschenzeit gerne mal rüber, nahmen ihr Taschenmesser raus und schnitten, wenn keiner hinschaute, einen ganzen Ast ab. „Den Ast an der Maul, so breed, dann simmer zerickgeschwumm.“ Meistens merkte der Baumbesitzer es dann doch noch, aber er konnte nicht schwimmen und folglich auch nichts unternehmen.
Herbert war praktisch veranlagt, konnte vieles reparieren und hat auch gern gewerkelt; er hat mir mal ganz stolz uralte Metallbauteile gezeigt. Das war sein „Trix Baukasten“, so hieß die Marke, es muss ein Weihnachtsgeschenk für ihn gewesen sein, 50 Pfennig war der Preis, wenn ich es richtig im Kopf habe. Ich kann mich noch heute daran erinnern, wie die Hände gerochen haben, wenn man damit gespielt hat.
Drei Brüder im Krieg
Liebe Freunde, liebe Verwandten, ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass es eine schöne Kindheit war, die Herbert Löwen hier in Detzem erlebt hat. Auch, wenn sich damals schon die Schatten eines großen Unheils abzeichneten. 1939 kam es zum großen Krieg, zum Weltkrieg. Mit 17 Jahren wurde Herbert Soldat, er kam in Belgien zum Einsatz, wurde schließlich gefangengenommen und nach Schottland gebracht. Dort hatte er das große Glück, bei einer Bauernfamilie Dienst leisten zu dürfen, die ihn nicht als Feind, sondern als Menschen betrachteten, weshalb eine lebenslange Brieffreundschaft entstand, die Jahrzehnte später zu Besuchen in Schottland mit Tochter Maria und Gegenbesuchen führte. Erst 1948 kam er zurück in die Heimat.
Sein Bruder Hans hatte ebenfalls Glück: Nachdem er mit der Armee des Wüstenfuchses Erwin Rommel aufgerieben worden war, landete er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft – und kam in ein Lager im sonnigen Kalifornien, wo es den jungen Deutschen an nichts fehlte. Wo sie Dinge wie Ice-Cream und Chewing Gum kennenlernten und wo keiner so genau hinschaute, wenn sie mal eine Kiste Schokolade für die amerikanischen GIs zu Bruch gehen ließen und selber verspeisten.
Doch kaum eine Detzemer Familie blieb in diesen Jahren verschont, und so traf es auch den Zwillingsbruder von Hans. Josef ist an der Ostfront gefallen. Sein Portraitfoto hing bis zuletzt im Zimmer vom „Petta“, wie auch wir Kinder Onkel Hans immer genannt haben, obwohl er gar nicht unser Patenonkel war, sondern der von Maria. Als klar war, dass ich sein Zimmer einmal übernehmen würde, hat er mir gesagt: Du kannst alles verändern, das ist mir egal, aber das Foto, bitte lass das hängen!“
das elterliche Weingut wächst
Schon als Kind hat sich unser Opa für die Bahn interessiert. Er wäre eigentlich auch selbst gern zur Bahn gegangen, hat er mal erzählt. Doch diesen Traum hat Opa Herbert nie verwirklicht. Der Bahn ist er aber bis ins hohe Alter auf andere Art treu geblieben, denn er hat sich mit viel Liebe zum Detail eine Modelleisenbahn aufgebaut.
Statt also zur Bahn zu gehen, hat er sich an den Belangen der Familie orientiert und das elterliche Weingut übernommen. Sein Bruder Hans ist ihm dabei zur Hand gegangen – und natürlich die Frau an seiner Seite, unsere Oma Irmina oder Irma, wie sie von allen genannt wurde. Die beiden haben am 28. April 1959 geheiratet und zwei wunderbare Kinder zur Welt gebracht. Maria, 1961 geboren, und Herbert, der 1963 folgte.
Nur wenig später, im März und im Mai 1965, starben Herberts Eltern Josef und Irmine; es war den beiden also leider nicht vergönnt, viel Zeit mit den Enkeln zu verbringen. Die junge Familie von Herbert und Irma brachte das elterliche Weingut voran; zu den Stammkundinnen und -kunden bauten Herbert und Irma exzellente persönliche Beziehungen auf. Wenn Gäste in die gute Stube kamen, die damals auch tatsächlich nur für besondere Anlässe genutzt wurde, dann war das immer eine große Sache. Damals lebten sie noch im Haus in der Neustraße.
Maria und Herbert fehlte es in ihrem Leben an Nichts, sie erinnern sich an eine geborgene und schöne Kindheit. „Früher habe ich immer gedacht, ich hatte zwei Väter, den Pätta und den Papa“, hat Maria mir erzählt.
Und Maria konnte sogar Abitur machen. Das mag heute nichts Besonderes mehr sein, doch aus der Perspektive ihrer Eltern war es das ganz gewiss. Denn auch Oma Irma war eine gute Schülerin gewesen, vor allem im Rechnen (ihre Tochter sollte später zur Sparkasse gehen). Irma selbst hatte damals nicht zur weiterführenden Schule gehen dürfen; da half auch alles gute Zureden des Lehrers gegenüber den Eltern nicht. Das Schulgeld war teuer. Noch Jahrzehnte später hat sie das beschäftigt.
Die Kinder gründen eigene Familien
Aus den Kindern wurden Erwachsene, die eigene Familien gründeten. Dabei durften sie auf die großzügige Unterstützung ihrer Eltern bauen. 1983 heiratete Maria einen talentierten Trierer Fußballer und Sparkassen-Kollegen namens Albin. Also packten die Älteren tatkräftig mit an, um Herberts Elternhaus in der Agritiusstraße zu renovieren. Als Herbert Junior 1990 seine Moni geheiratet hat, überließen die Eltern ihnen das Haus und Weingut in der Neustraße und richteten sich im Erdgeschoss in der Agritiusstraße ein. Für Herbert eine Rückkehr zu den Wurzeln.
Die Enkelkinder kamen auf die Welt, und für sie war Herbert ein liebevoller Opa, in dessen Armen man Ruhe und Geborgenheit fand, ein Opa, der immer alles möglich gemacht hat. Wenn wir Ritter spielen wollten, hat er uns aus Holz ein Schwert gebaut, und wenn wir Pfeil und Bogen haben wollten, dann sind wir mit ihm losgezogen und haben Weiden geschnitten, um das zu basteln. Als Linda und Jana ihr Taschengeld aufgebessert haben, indem sie die Werbeprospekte im Dorf ausgetragen haben, da stand Opa Herbert jeden Samstag Morgen vor der Tür – auch noch mit Mitte 80 ist er mit den Mädchen von Haus zu Taus gezogen. So wurde aus einem Nebenjob eine sehr geschätzte Familienaktivität.
Laut wurde Opa Herbert übrigens nie, er hat sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Wenn wir Kinder es allzu doll getrieben haben, war es die Oma, die irgendwann gerufen hat: „Wei hullen ich de Kochlöffel!“ Dass sie einen bei der Verfolgung um den Küchentisch eh nicht erwischen würde, muss der Oma klargewesen sein, aber es war im Rückblick doch ein schönes Ritual.
Tatenlos wurden sie nie
Herbert und Irma wurden älter, doch tatenlos wurden sie nicht. Noch bis in seine 80er war Opa Herbert noch im Weinberg aktiv, und als er dort nicht mehr mitgehen konnte, hat er sich um die Maschinen und das ganze Drumherum gekümmert. Hat überall angepackt. Tausend kleine Dinge, die eigentlich niemandem aufgefallen sind – oder erst, als er sie mal nicht mehr machen konnte. Dank hat er dafür nie gesucht, das war nicht seine Art.
2003 hat Herbert von seinem Bruder Hans Abschied nehmen müssen. Und am 24. August 2011 starb nach kurzer, schwerer Krankheit seine Irma. „Wo du warst, war Wärme, Fürsorge und Geborgenheit“, so stand es damals in der Traueranzeige. Ein langer gemeinsamer Lebensweg endete. Doch was sie gemeinsam geschaffen hatten, das blieb fortbestehen. Beide waren unglaublich dankbar dafür, dass sie ein großes Jubiläum noch zusammen erleben durften: Ihre Goldene Hochzeit.
Es hat Opa Herbert in den Jahren danach unglaublich viel gegeben, Zuhause bleiben zu können. Seinen 95. Geburtstag hat er noch in Detzem gefeiert. Als seine Kräfte dann so stark nachließen, dass die Betreuung zu Hause nicht mehr möglich war, kam er ins Altersheim nach Schweich. Die Betreuer dort erlebten ihn so, wie ihn auch zu Hause alle kannten: als zurückhaltenden, bescheidenen Menschen, der sich und seine Bedürfnisse nie so wichtig nahm, der geduldig wartete, bis er an der Reihe war.
Ein langes Leben endet
Dass er einmal das stolze Alter von 97 Jahren erreichen würde, das hätte er wohl selbst nicht gedacht, doch er hat das geschafft. Als dann in den letzten Wochen klar wurde, dass er seine letzte Reise antreten würde, hat er noch einmal Abschied von seinen Liebsten nehmen können. Sprechen konnte er da schon nicht mehr, aber das war für einen Mann, der nie viele Worte verloren hat, auch nebensächlich. Wie er jedem die Hand gedrückt hat, wie er uns noch ein dankbares Lächeln zuwerfen konnte, das hat alles gesagt.
Ein langes Leben ist zu Ende gegangen. Die Todesanzeige bringt dieses Leben auf den Punkt: „Was ihn vor allem auszeichnete war seine Bescheidenheit, Güte, Geduld und Herzenswärme.“
Lieber Opa, auch im Namen von Linda, Jana und Stephan sage ich Danke für Alles. Was du uns mit auf den Weg gegeben hast, war kostbar. Wir werden dich immer im Herzen tragen. In den letzten Tagen hat mich ein Satz sehr beschäftigt, den ich nie vergessen habe. Er stammt von Oma Irma, kurz vor ihrem Tod. Als ihr klar geworden ist, dass ihre Reise bald enden würde, da hat sie ihn gesagt. Er soll hier mein Schlusswort sein:
„Gell, Herbert, mir haaten dach e scheent Läwen!“