Der umstrittene Visionär

Vor 200 Jahren wurde in Trier Karl Marx geboren

In: Luxemburger Wort, 5. Mai 2018

Seine Kritiker machen ihn für Unterdrückung und die Massenverbrechen des Kommunismus verantwortlich. Seine Anhänger verehren ihn hingegen als brillanten Analysten der globalisierten kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Vor 200 Jahren, am 5. Mai 1818, wurde Karl Marx geboren. Er ist zweifelsohne nicht nur der berühmteste, sondern auch der umstrittenste Sohn der Stadt Trier.

„Dat is Marx? Dat grüne Ding?“ Laut lachen muss ein älterer Trierer, als er die neu gestaltete Ampelanlage am Simeonstiftplatz bei der Porta Nigra betrachtet. Anders als üblich fordert ihn nicht mehr das klassische „Ampelmännchen“ zum Gehen auf, sobald es grün wird. Das Ampelmännchen ist nun ein Ampelmärxchen: ein nach links voranschreitender Mann mit Rauschebart und einem Buch in der Hand. Der Einheimische ist sofort begeistert: „Dat is mal wat Lustiges! Endlich mal bisschen Farbe und Originalität in der Stadt!“

Dass nur wenige Meter entfernt am 5. Mai auch die große Statue von Marx enthüllt wird, das begrüßt der Bürger ebenso: „Ich bin kein Fan von Statuen von irgendwelchen wichtigen Leuten, aber dem Karl Marx darf man ruhig eine geben, er hat nix falsch gemacht.“ Das sieht ein weiterer Trierer völlig anders: „Und was kommt als Nächstes? Kim Jong-un?“, fragt er rhetorisch. Ein anderer Trierer Einwohner wiederum, Angelo Boutzufiris, sagt: „Er ist nun mal der berühmteste Sohn Triers, für mich ist er willkommen – auch die Statue“. Damit verherrliche man nicht die kommunistischen Diktaturen, ist der Sohn eines Griechen und einer Spanierin überzeugt: „Wenn es die kommunistischen Länder nicht gegeben hätte, dann hätten wir schon längst eine Karl-Marx-Statue und dann würde man Marx nicht so negativ betrachten.“

„Er ist ein scharfsinniger Analytiker des Kapitalismus.“

Kardinal Reinhard Marx

Die spontanen Reaktionen der Passanten in der Trierer Innenstadt zeigen, dass die Urteile über einen Menschen und sein Vermächtnis unterschiedlicher kaum ausfallen könnten. „Ein großer Visionär – das war Karl Marx zweifelsohne“, würdigt ihn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Für die Historikerin und Marx-Forscherin Beatrix Bouvier, frühere Leiterin des Museums Karl-Marx-Haus, ist „die Bedeutung des aus Trier stammenden Philosophen, Politökonomen, Journalisten, Politikers und Revolutionärs – global gesehen – unbestritten“. Und obwohl Marx‘ Worte von der Religion als „Opium des Volks“ längst geflügelt sind, würdigen ihn auch Kirchenvertreter. Kein Geringerer als der ebenfalls aus Trier stammende Vordenker der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, sagte einst mit Blick auf die Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung: „Wir stehen alle auf den Schultern von Marx.“ Auch der Münchner Kardinal Reinhard Marx betont: „Er ist ein scharfsinniger Analytiker des Kapitalismus.“

Für Hubertus Knabe hingegen, Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im ehemaligen Stasi-Gefängnis, ist Marx ein Denker, der den Menschen auf die Zugehörigkeit zu einer Klasse reduziert habe, von denen die eine – das Bürgertum – gewaltsam beseitigt werden müsse. „Die Diktatoren, die für Unterdrückung und Massenmord verantwortlich waren, haben nur das ausgeführt, was er vorgedacht hat“, sagt Knabe. Und: „Man kann die kommunistischen Massenverbrechen nicht von dem loslösen, was Marx geschrieben hat.“ All die Zitate belegen: Auch zu seinem 200. Geburtstag ist Karl Marx keineswegs eine vergessene Figur der Geschichte, sondern ein nach wie vor hochaktueller und umstrittener Denker.

Am 5. Mai 1818 wurde der Philosoph und Ökonom in Trier geboren, wo jedes Jahr Tausende Touristen aus dem offiziell noch immer kommunistisch regierten China zu seinem Geburtshaus pilgern. Das Reich der Mitte war es auch, das der Moselstadt zum Jubiläum die rund fünfeinhalb Meter hohe und nicht minder umstrittene Bronzestatue von Marx geschenkt hat. Das barocke Marx-Haus in der Brückenstraße (damals Brückengasse) ist heute ein Museum; im April 1818, einen Monat vor der Geburt von Karl, hatte es sein Vater Heinrich Marx als Wohnhaus gemietet. Doch schon im Herbst 1819 kaufte die Familie ein Haus in der Simeonstraße in Sichtweite der Porta Nigra, wo Karl seine Kindheit und Jugend verbrachte.

Kommunistischer Kritiker

Die Eltern von Marx stammten aus traditionsreichen Trierer Rabbinerfamilien, doch weil das Trierer Land ab 1815 zu den preußischen Rheinlanden gehörte und jüdische Juristen nach preußischem Recht nicht mehr zum Staatsdienst zugelassen waren, trat Vater Heinrich zum Protestantismus über. Auch seine Kinder ließ er im August 1818 taufen. Nach seinem Abitur 1835 begann Karl ein Jurastudium in Bonn. Bereits 1836 wechselte er ins pulsierende Berlin, wo er zunehmend mehr Zeit in philosophische und historische Studien investierte. Zunehmend faszinierte er sich für die Gedankenwelt Hegels, dessen dialektische Methode seine Gedankenwelt entscheidend prägte. Zudem wurde Marx von einigen religionskritischen Schülern Hegels beeinflusst, für die Gott als Erfindung des Menschen galt, in der dieser sich selbst entfremde. „Marx durchläuft im Schnelldurchgang die metaphysische Evolution vom Judaismus über das Christentum zur Gottlosigkeit als final wünschenswertem Zustand“, analysiert sein Biograf Jürgen Neffe.

Seine Studienjahre beendet Marx 1841 in Jena mit einer Doktorarbeit über die „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“. Weil sein Plan, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, nicht aufging, widmete sich Marx dem Journalismus. 1842 wurde er Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln, die jedoch bereits ein Jahr später verboten wurde. Im Juni 1843 heiratete Marx in Bad Kreuznach seine Verlobte Jenny von Westphalen, eine Jugendliebe aus Trier, die als intelligent, anmutig und humorvoll galt. Im Herbst des Jahres zogen sie nach Paris, wo Marx sich mit seinem lebenslangen Mitstreiter und Förderer Friedrich Engels anfreundete. 1845 wurde der zunehmend als kommunistischer Kritiker bekannte Marx auch aus Paris ausgewiesen. Er übersiedelte nach Brüssel, wo er mit Engels das im Februar 1848 veröffentlichte „Manifest der Kommunistischen Partei“ schrieb.

 „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt das Werk. Marx und Engels postulieren darin, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften „die Geschichte von Klassenkämpfen“ sei – vom Gegensatz zwischen Freien und Sklaven im alten Rom bis zum Konflikt von Proletariern und der Bourgeoisie. Manche Auszüge aus dem Kommunistischen Manifest lesen sich wie Beschreibungen der gegenwärtigen globalisierten Wirtschaftsordnung: „Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten, und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.“

Die Revolution von 1848 begleitete Marx als Chefredakteur der systemkritischen „Neuen Rheinischen Zeitung“ in Köln. Nach dem Scheitern der Revolution wurde er 1849 aus Preußen ausgewiesen. „So war er gezwungen, die verbleibenden 35 Jahre bis zu seinem Tod 1883 im Londoner Exil zu verbringen“, sagt die Forscherin Bouvier. Dort verdingte sich Marx weiter als politischer Journalist, etwa für die „New York Daily Tribune“. Er engagierte sich auch in der internationalen Arbeiterbewegung, um die ersehnte proletarische Revolution zu beflügeln. Vor allem aber verbrachte er unendlich viel Zeit im Lesesaal der British Library und trieb seine ökonomischen, historischen und philosophischen Studien weiter. „Weder Krankheit, Armut, Ehekrisen noch Familientragödien halten ihn davon ab, beharrlich an seinem Werk zu arbeiten“, so Neffe. Denn die Familie hatte es nicht leicht im Exil: Bis in die 1860er- Jahre hinein war ihr Leben von Geldsorgen und vielerlei Krankheiten geprägt. Von den sieben Kindern erlebten nur Jenny, Laura und Eleanor das Erwachsenenalter. Der Fabrikantensohn Engels half gelegentlich mit Geldspritzen aus; eine Erbschaft machte die Lage schließlich besser.

Schonungslose Beschreibung der Lage der Arbeiter

Das bedeutendste Werk des Ökonomen Marx erschien vor nunmehr 150 Jahren, im September 1867. Der erste Band von „Das Kapital“ wurde zu einem der einflussreichsten Bücher der Neuzeit – und beschrieb schonungslos die miserable Lage der Arbeiter: „Zu Tod arbeiten ist die Tagesordnung“, heißt es in einer Situationsbeschreibung der Produktionsbedingungen des späten 19. Jahrhunderts. In ihren Grundzügen geht die Marx’sche ökonomische Theorie von einem Gegensatz zwischen Kapitalisten und Proletariern aus. Das Privateigentum an Produktionsmitteln liegt demnach in den Händen von Kapitalisten; die Arbeiter besitzen nur ihre Arbeitskraft, die sie an den Kapitalisten verkaufen. Weil ihr Arbeitslohn viel geringer als der Wert der Güter ist, die sie herstellen, erzielen die Fabrikanten einen Profit, den sogenannten Mehrwert. Nach der Theorie kommt es zu einer ständigen Konzentration des Kapitals bei den Wenigen, die Arbeiter verelenden hingegen.

Das „Kommunistische Manifest“ liest sich vergleichsweise eingängig. Wer sich jedoch die Mühe macht, das „Kapital“ zu studieren, muss sich durch ökonomische Berechnungen und Theorien kämpfen. Doch davon dürfe man sich nicht abschrecken lassen, findet die Historikerin Bouvier. Der Philosoph habe schließlich die inneren Triebkräfte und Grenzen des zu seiner Zeit expandierenden Industriekapitalismus differenziert analysiert. Daran könne man angesichts der gegenwärtigen Krisen und Missstände der globalisierten Wirtschaftsordnung anknüpfen, so die Professorin.

Zwei Jahre nach seiner Frau Jenny starb Karl am 14. März 1883 in London. Er wurde auf dem Friedhof Highgate begraben. Sein Grabmal ziert bis heute jener berühmte Aufruf, mit dem Marx das Kommunistische Manifest beendete: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Was bleibt 135 Jahre nach seinem Tod vom Erbe des Philosophen? „Letzte Wahrheiten“, mahnt der Bundespräsident, dürfe man von Marx im Jahr 2018 nicht erwarten. „Allerdings gibt es Sätze von Marx, die sich zeitlos als Denkanstöße eignen“, so Steinmeier. Er zitiert: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“

Veröffentlicht von

Michael Merten

Journalist in der Großregion Trier-Luxemburg.