Vor 600 Jahren wurde Jan Hus hingerichtet
In: Christ & Welt in der ZEIT, 7. Juli 2015
Vor 600 Jahren wurde Jan Hus als Ketzer verbrannt. In Prag und einigen südböhmischen Städten war ich auf seinen Spuren unterwegs. War er der überzeugendere Reformator? Für Christ & Welt in der Zeit bin ich dabei dieser Frage nachgegangen.
Luther und kein Ende: Mit unzähligen Veranstaltungen fiebert Deutschland »Luther 2017« entgegen. Es gibt die Luther-Dekade, Luther-Devotionalien, Luther-Pilgerwege, einen Luther auf Twitter, Luther-Brot, und natürlich darf auch Luther-Bier nicht fehlen. Im Logo von »Luther 2017«, der offiziellen Fan- und Kampagnenseite zum Reformationsgedenken, prangt der Bibelvers: »Am Anfang war das Wort«.
Am Anfang war aber nicht Luther. Bei all der Fokussierung auf Luther 1517 werden viele andere Jahreszahlen zur Nebensache. Etwa »Wyclif 1377«: das Jahr, als John Wyclifs Thesen von Papst Gregor XI. verurteilt wurden. Oder aber »Hus 1415«: das Jahr, als Jan Hus vor genau 600 Jahren, am 6.Juli 1415, vom Konstanzer Konzil als Ketzer verurteilt, dem Feuertod überantwortet wurde.
Es verwundert nicht, dass die Deutschen nur wenig Anteil am Schicksal des böhmischen Gelehrten nehmen. Auch in seinem Heimatland Tschechien, dessen Bevölkerung heute größtenteils atheistisch ist, wurde die Bedeutung von Jan Hus lange Zeit verkannt. Pfarrerin Hana Tonzarová von der Tschechoslowakisch-Hussitischen Kirche in Prag muss schmunzeln, als sie von ihrem ersten Kontakt zum Kultusministerium des Landes berichtet. Die Theologin ist das tschechische Pendant zu Margot Käßmann, eloquent, charismatisch – und als Leiterin einer Sonderkommission ihrer Kirche quasi das Gesicht des 600-Jahr-Jubiläums. Sie berichtet, dass sie 2012 erstmals an die Verwaltung herangetreten sei, um mit den Beamten über das bevorstehende Gedenkjahr zu sprechen. „Deren Reaktion war: Was wollt Ihr eigentlich? War das nicht ein Ketzer?“, erzählt Tonzarová.
Als Ketzer abgestempelt
Ein Ketzer – das war, zumindest in katholisch geprägten Regionen, über Jahrhunderte hinweg der Stempel, den das Andenken an den Gelehrten überschattete. Auch in Tschechien ist das Gedenken noch immer davon beeinflusst. Für Tonzarová bedeutet dieses Stigma: Sie muss viel Aufklärungsarbeit leisten. Die Eckdaten aus dem Leben des Hus sind schnell umrissen: Geboren 1370 oder 71 im südböhmischen Husinec, zog der junge Mann aus einfachen Verhältnissen wohl 1390 zum Studium der freien Künste nach Prag. An der Universität machte er nach seinem Magister 1396 und der Priesterweihe 1400 schnell Karriere. 1401 wurde er Dekan der Philosophischen Fakultät und kurz darauf Rektor der Universität. In der Prager Bethlehem-Kapelle predigte er zehn Jahre lang zum Volk – allerdings nicht wie gewohnt auf Lateinisch, sondern auf Böhmisch.
Das machte Hus beim einfachen Volk, dem niederen Adel und an der Universität beliebt. Bis zu 3.000 Besucher hörten seine wöchentlichen Predigten. Sein Verhältnis zu Erzbischof und König, zur Deutsch sprechenden Prager Oberschicht und zum Klerus gestaltete sich jedoch zunehmend schwierig; hier machte er sich viele Feinde. Hus bezog sich in seinen Predigten und Werken stark auf den 1384 verstorbenen Kirchenreformer John Wycliff. Für diesen sei die Bibel die Wahrheit Gottes, das Fundament des Glaubens gewesen; „sie diente ihm als Waffe gegen die Kirche seiner Zeit“, erklärt der Tübinger Mediävist Peter Hilsch.
Auf den Schultern von John Wycliff
Wycliff verstand die Kirche als Gemeinschaft der von Gott erwählten, also prädestinierten Menschen, im Unterschied zur Institution Kirche mit ihrem Oberhaupt, dem Papst. Diese Überzeugung von der Kirche als Gemeinschaft der Erwählten vertrat seit 1410 auch Hus, ohne die Funktionen der kirchlichen Institutionen völlig in Abrede zu stellen. „Hus selbst war gewiss kein eigenständiger philosophischer Denker“, urteilt Hilsch – zu sehr sei seine Theologie von den Ansichten des umstrittenen, später von der Kirche geächteten Wycliff geprägt gewesen.
Auch Hana Tonzarová betont die enge Verbindung zwischen dem Engländer und dem Böhmen. „Hus sah die Kirche als mystischen Körper Christi, die nicht mit der organisierten Kirche identisch ist. Er war sehr nah bei Wycliff, und das war gefährlich.“ Denn Hus ließ es nicht auf theologischen Disputen beruhen – er kritisierte auch die äußeren Missstände seiner Zeit in Kirche und Gesellschaft- ähnlich wie es 100 Jahre später Luther tat.
Hus wandte sich früh gegen den moralischen Verfall des Klerus, griff die reichen Bettelmönche an und kritisierte das Versagen der zuständigen Autoritäten beim abendländischen Schisma. In seiner Schrift über die sechs Irrtümer widerlegte er zudem die Meinung vieler Priester, sie könnten den Leib Christi, wann immer sie wollten, erschaffen und nach Belieben Sünden vergeben. Hus, so Tonzarová, „strebte eine Kirche ohne Makel an, blieb kompromisslos – und machte sich damit Feinde“.
Im Konflikt mit dem Papst
1410 erließ Papst Alexander V. eine Bulle gegen die Lehren Wycliffs. Der standhaften Anhänger Jan Hus wurde mit dem Kirchenbann bestraft, im Folgejahr gar durch Johannes XXIII. exkommuniziert und aus Prag verbannt. Der vom Volk weiterhin hochgeschätzte Gebannte wetterte daraufhin gegen den vom Papst erlassenen Ablasshandel, mit dem ein Kreuzzug gegen Neapel finanziert werden sollte. Hus zog sich nach Mittelböhmen zurück, wo er 1414 die Einladung zum großen historischen Ereignis jener Zeit, dem Konstanzer Konzil, erhielt.
Dort wollte er seine Thesen verteidigen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde er mit falschen Vorwürfen konfrontiert und festgesetzt. An seinen vermeintlichen Irrlehren hielt er unbeeindruckt fest, schlug zahlreiche Angebote aus, dem sicheren Tod durch einen Widerruf zu entgegen. So wurde er am 6. Juli 1415 vom Konzil als Ketzer gebrandmarkt, von weltlichen Instanzen zum Tode verurteilt und außerhalb der Stadtmauer verbrannt. Noch auf dem Scheiterhaufen weigerte er sich, seine Lehren zu widerrufen. Ordentlich rehabilitiert worden ist der Prager Magister noch immer nicht, doch als Ketzer wird er von katholischer Seite nicht mehr betrachtet. Papst Johannes Paul II. drückte 1999 sein „tiefes Bedauern für den grausamen Tod von Jan Hus“ aus und würdigte ihn als „denkwürdige Persönlichkeit“.
Knapp 100 Jahre nach der Hinrichtung betrat Martin Luther die historische Bühne. Er wusste, auf welchen Füßen er stand – bezeichnete er sich doch in einem Brief als Hussiten. „Jan Hus, sein Vorläufer John Wycliff, die Waldenser: Martin Luther ist viel stärker bewusst als vielen seiner kirchlichen Nachfahren, dass Reformation von Anfang an eine Begleiterscheinung der Kirche gewesen ist“, erklärt der aus Konstanz stammende Publizist und „deutsche Hussit“ Arnd Brummer in seiner neuen Hus-Biographie. Brummer äußert die Hoffnung, dass die Texte und Thesen von John Wycliff und Jan Hus „überall sichtbar werden, wo der kirchlichen Reformation gedacht wird“.
Hus tritt aus dem Schatten Luthers,
weil dessen Schattenseiten immer deutlicher werden
Hus und Luther vertraten in wichtigen theologischen Punkten ähnliche Positionen. „Zumindest bei der Frage, was die Kirche ist, dass die Kirche dort ist, wo die Menschen sich in ihrer Mitte mit Christus treffen, waren sich beide sehr nahe“, so die Theologin Tonzarová. Sie bewundert die Standhaftigkeit, mit der Hus bereit war, für seine Sicht der Dinge in den Tod zu gehen. Mehrfach boten Delegierte des Konzils dem eingekerkerten Magister an, sein Leben durch einen Widerruf zu retten. Hus aber lehnte einen faulen Kompromiss ab, er blieb bei seiner Kritik der Missstände – ähnlich wie Luther, der auf dem Reichstag zu Worms großen Mut bewies.
Doch die Standhaftigkeit des Hus wird umso deutlicher, je mehr die Schattenseiten Luthers in den Blickpunkt geraten. Etwa seine Hasstiraden gegen die Juden oder sein Aufruf, die „mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ totzuschlagen – just, nachdem diese sich, angestachelt von der „Freiheit eines Christenmenschen“, gegen ihre Feudalherren erhoben hatten. Eine breite Öffentlichkeit hat in den vergangenen Jahren die Fehltritte Luthers diskutiert; sie nagen an dessen Glaubwürdigkeit. Doch noch immer steht der Eislebener im Mittelpunkt des deutschen Gedenkens.
Zweifelsohne wäre es verfehlt, ihn vom Sockel der Geschichte zu stoßen. Doch das historische Bild gehört zurechtgerückt. Denn nach wie vor werden alle anderen Reformatoren auf dem Weg zu „Luther2017“ nur am Rande wahrgenommen, wie Brummer kritisiert. Zu Recht ärgere das die Tschechen, findet der chrismon-Chefredakteur. Denn es gab im jahrhundertelangen Prozess der Reformation viele Protagonisten. Am 6. Juli 2015 gedenken viele Christen des himmelschreienden Unrechts, das dem standfesten Gelehrten in Konstanz widerfahren ist. Das ist ein guter Anlass, um sich ein Stück weit von der übergroßen deutschen Fixierung auf Luther zu lösen. Und Jan Hus zu würdigen als den überzeugenderen, weil glaubwürdigeren Reformator.