Im Brandenburgischen Lindow knüpft Eremit Jürgen Knobel an eine alte Tradition an
In: Gesichter und Geschichten Band 2, Juli 2015
Im Juli ist der Portraitband „Gesichter und Geschichten Band 2“ im Erzbistum Berlin erschienen. Darin ist auch mein Portrait des Lindower Eremiten Jürgen Knobel erschienen. Eine Leseprobe.
Die kleine Glocke ist ein Vermittler. Keine elektrische Türklingel, sondern das einfache Bronzeglöckchen am Holzzaun trennt die Außenwelt von der stillen Welt der Klause. Nach einer kurzen Zeit des Wartens öffnet sich die Tür, und Jürgen Knobel empfängt den Besucher an dieser symbolischen Schranke.
Der schlanke Mann mit Bartansatz trägt ein helles Gewand aus grobem Leinenstoff. Im beschaulichen Lindow, einem idyllischen Ort im Ruppiner Seenland, bittet er zu einem Gespräch bei Tee und Gebäck. Ein Einsiedler im katholischen Küsterhäuschen des Dorfes, damit hatten die Gläubigen, die mit ihrer Kirche schon längst abgeschlossen hatten, nicht gerechnet.
Nachdem 2008 der letzte Priester abgezogen worden war, wurde die 1931 erbaute Kirche St. Joseph fast vollständig ausgeräumt. „Die Lindower hatten fast vergessen, dass es hier oben eine Kirche gibt“, sagt Knobel schmunzelnd. Mit Knobel zog jedoch im Sommer 2014 neues Leben in die Kirche ein. Das vormals unbewohnte Küsterhäuschen wurde zu seiner Klause St. Bernhard. Sein Empfangsraum für Besucher war früher die Sakristei; die schwere alte Holztür führt direkt zum Altarraum der Kirche. Eine Treppe führt zu seiner für Gäste unzugänglichen Klause im zweiten Stock. Dort hat sich der 1962 in Meersburg am Bodensee geborene und aufgewachsene Theologe sein Refugium geschaffen. Langsam spricht sich herum, dass ein Einsiedler dort lebt. Zu seinen sonntäglichen Messen und den Stundengebeten Sext und Vesper, die er öffentlich betet, kommen Besucher.
Friedlich und idyllisch liegt der Kirchengarten am Ortsrand – wenn nicht gerade die Kinder aus der benachbarten Kita draußen spielen. Doch von den Geräuschen lässt sich Knobel nicht stören. Im Gegenteil – wenn er einmal unterwegs ist, vermisst er die Idylle seiner Klause: „Wenn ich nach fünf, sechs Tagen zurückkehre, ist es wieder wie am Anfang“, sagt der Eremit. Mit der ägyptischen Wüste hat die brandenburgische Landschaft nur wenig gemeinsam. Und doch steht Knobel in einer Tradition, die bis in die Urzeiten der Kirchengeschichte zurückreicht. Schon im dritten Jahrhundert zogen sich Gläubige aus ihrem Alltag zurück, um in der Abgeschiedenheit der Wüste zu leben. Nach wie vor streben Einsiedler wie Knobel nach Rückzug und Einsamkeit.
Neben Ordens- gibt es auch Diözesaneremiten und freie Einsiedler
Die Kirche kennt sowohl Ordens- als auch Diözesaneremiten, Frauen wie Männer. Die alte, freie Lebensform vergangener Jahrhunderte wurde erstmals 1983 im Kirchenrecht verankert. Der Codex Iuris Canonici hält fest, dass die Kirche ein eremitisches Leben anerkennt, „in dem Gläubige durch strengere Trennung von der Welt, in der Stille der Einsamkeit, durch ständiges Beten und Büßen ihr Leben dem Lob Gottes und dem Heil der Welt weihen. Als im geweihten Leben Gott hingegeben wird der Eremit vom Recht anerkannt, wenn er, bekräftigt durch ein Gelübde oder durch eine andere heilige Bindung, sich auf die drei evangelischen Räte öffentlich in die Hand des Diözesanbischofs verpflichtet hat und unter seiner Leitung die ihm eigentümliche Lebensweise wahrt.“
Doch trotz dieser Festlegungen im Kirchenrecht gibt es keine offizielle Statistik. Niemand weiß daher, wie viele Eremiten es genau in Deutschland gibt. Schon seit einiger Zeit, so die bekannte Osnabrücker Diözesaneremitin Maria Anna Leenen, gebe es aber einen Neuaufbruch des eremitischen Lebens. Leenen, die selbst eine Internetseite zum Thema betreibt, geht von bis zu 90 Menschen allein in Deutschland aus – Tendenz steigend. Die Bonner Journalistin Ebba Hagenberg-Miliu hat für ihr 2013 erschienenes Buch „Allein ist auch genug. Wie moderne Eremiten leben“ 33 Einsiedler besucht. Sie stieß auch auf „inoffizielle“ Einsiedler, die etwa in einer Flusshütte oder in einem Schäferkarren leben. „Die einsame Wüste, das kann heute aber auch mitten in der anonymen Stadt sein“, betont die Autorin. Oder aber eine zuvor schon abgeschriebene Kirche im Brandenburgischen.
Knobels Erscheinungsbild orientiert sich an antiken Vorbildern
Auf Außenstehende mag Knobel wie ein Mönch wirken. Nicht nur sein Gewand, auch sein vom Gebet geprägter Tagesablauf ähneln dem eines Ordensmannes. Doch seine Kutte hat er selbst nach antiken Vorbildern entworfen. Denn einen offiziellen Habit gibt es nicht – so wie es auch keine fest vorgegebenen Lebensregeln gibt. Eremiten sind keine offiziellen Amtsträger der Kirche. Doch in diesem Punkt unterscheidet sich Knobel von den meisten anderen Einsiedlern: Er ist ein geweihter Priester der katholischen Kirche, war es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Doch die Veranlagung zu einem Leben in Stille und Zurückgezogenheit, die steckte schon immer in der Vita des heutigen Einsiedlers.
Das Zweitälteste Kind einer siebenköpfigen Familie erzählt, dass er schon als Jugendlicher eher introvertiert war und aus der Stille Kraft und Inspiration gezogen habe. Doch der Heranwachsende war kein Einzelgänger: Er hatte Freunde, hatte auch Beziehungen zu Frauen. Zunächst entschied sich Knobel für den Beruf des Kunstmalers und Restaurators. Ein normales Leben. 1992 kam es dann zum Bruch mit seinem bisherigen Dasein: Er trat dem Franziskanerorden bei. Nach anderthalb Jahren wusste er, dass das Leben im Orden ihm nicht nahe genug an seinem Vorbild Franz von Assisi war. So entschied er sich für ein Theologiestudium bei den Zisterziensern im österreichischen Heiligenkreuz. Nach der Priesterweihe 2002 ließ er sich auch zum Meditations- und Exerzitienleiter und Geistlichen Begleiter ausbilden. 2009 gründete er das Geistliche Zentrum St. Peter und St. Paul in Berlin-Moabit, das er bis 2012 leitete. Dass Priester zurückgezogen als Eremiten leben, war im Mittelalter üblich, ist heutzutage jedoch eine absolute Seltenheit. Dass Knobel, den weiterhin eine Sehnsucht nach Zurückgezogenheit antrieb, letztlich diesen Weg einschlug, hängt mit der Begegnung mit einem Mann ab: Dem Beuroner Benediktiner Jakobus Kaffanke. Dieser hatte 1992 eine Klause in Überlingen am Bodensee bezogen, und Knobel verbrachte ab Mitte der 90er Jahre zahlreiche Sommermonate bei dem erfahrenen.
Der Weg zur passenden Lebensform
So reifte auch bei Knobel die Entscheidung heran, diese Lebensform für sich zu wählen. Der damalige Berliner Erzbischof Rainer Maria Woelki sei seinen Plänen mit Offenheit begegnet, berichtet Knobel. Im Januar 2014 legte er gegenüber dem Kardinal ein Gelübde ab und verpflichtete sich zu Gehorsam, Keuchheit und Armut. Nachdem sich Knobel wegen der besonderen Ausstrahlung des Ortes für eine Klause in Lindow entschieden hatte, finanzierte das Bistum den nötigen Umbau der Immobilie. Kurze Zeit später zog Knobel dort ein, lebt seitdem weitgehend zurückgezogen. Doch sein Leben besteht nicht nur aus Einkehr und Gebet: Er hat nach wie vor einen Lehrauftrag für Geistliche Theologie im Berliner Priesterseminar inne und schreibt spirituelle Bücher.
Die meisten Eremiten, so berichtet Hagenberg-Miliu, sichern ihren Lebensunterhalt mit einem „Nebenjob“, etwa indem sie ein paar Stunden pro Woche als Küster, Organist, Ikonenmaler oder Übersetzer arbeiten.
Trotz des gelegentlichen Dialogs mit der Außenwelt – eine Fähigkeit sei wichtig, betont Knobel: „Man muss sich der Stille stellen können und Dinge wie Ehrgeiz und Karrierestreben hinter sich gelassen haben“. Das Eremitenleben dürfe keine Flucht vor der Welt sein. Auch die Autorin Hagenberg-Miliu weiß: „Man muss ein psychisch stabiler und physisch gesunder Mensch sein.“ Nicht jeder Mensch eigne sich für ein Leben in Abgeschiedenheit, präzisiert dieOsnabrücker Eremitin Leenen und rät: „Man sollte zunächst einmal nicht zu jung sein und über eine gewisse Lebenserfahrung verfügen. Dann braucht es ein geistliches Rüstzeug in Sachen Gebet und Spiritualität, aber auch ein paar Grundlagen in Kirchenrecht, Kirchengeschichte und Bibelkunde. Weil wir keine Gemeinschaft haben, die einen in Krisenzeiten auffängt, muss man physisch und psychisch sehr robust sein. Sonst ist das nicht zu schaffen.“
Knobel lebt als Eremit, aber nicht als Asket
Wie ein Asket lebt der Lindower Eremit nicht. Er weiß, dass er nicht der Erwartungshaltung mancher Menschen entspricht, wonach ein Einsiedler völlig zurückgezogen in einer Höhle zu hausen hat. Oder wie der Philosoph Diogenes von Sinope, der vor rund 2.350 Jahren in einem Fass lebte. Doch das ist ein eindimensionales Bild vom Eremitenleben, mit dessen Wurzeln sich Knobel in seinen Studien befasst hat. Schon die antiken Wüstenväter, so verdeutlicht der Geistliche, hätten nicht völlig zurückgezogen und in radikaler Armut gelebt. Ihre Refugien seien teilweise gar wohlhabend gewesen. Knobels Klause entspricht heutigen Wohnstandards. Er besitzt keinen Fernseher, kein Radio, keine DVDs. Ein Handy hat er hingegen, er arbeitet am PC, und über einen leistungsschwachen Internetstick kann er Mails empfangen. Das ist für ihn eine Voraussetzung, um seine Nebentätigkeiten ausüben zu können. Auch ein gelegentliches Glas Wein, ein Tee – das sei erlaubt, meint Knobel: „Aber Sie dürfen nicht das Bedürfnis nach Luxus zum Absoluten werden lassen.“
Auch viele andere heutige Eremiten nutzen zivilisatorische Errungenschaften wie Internet und Radio, betreiben Homepages, geben auch Seminare. Es ist – und war in der Geschichte – ein Spagat zwischen dem Ideal und den Gegebenheiten des Alltags. Alle Eremiten streben nach Rückzug, erklärt Knobel. Doch schon bei den Wüstenvätern habe es ein Spannungsfeld zwischen Distanz und Nähe gegeben, sie seien oft von Pilgern aufgesucht worden. Wer als Rat- oder Sinnsuchender an seiner kleiner Glocke läutet, ist willkommen. Auch können Besucher an seinen Messen teilnehmen, und für Gespräche mit Gruppen oder Einzelnen nimmt er sich gern Zeit. „Mein Anspruch ist, individuell auf jeden Besucher eingehen zu können, je nachdem, was er braucht und sucht“. Das müsse sich nur im Rahmen halte, wie Knobel betont: „Wichtig ist mir, dass meine eigene Berufung lebbar bleibt. Ein riesiger Rummel hier, das wäre eine Farce. Ich muss mein kontemplatives Leben bewahren können.“
Knobel ist sich bewusst, dass er eine der ältesten spirituellen Lebensformen der Menschheit ausübt. Es geht dabei ihm um die Nähe zu seinem Schöpfer, um das Gebet, das theologische Studium, das Kontemplative. Knobel sagt: „Mein Plan ist, dass ich mein geistliches Leben als Eremit leben und es mir von Gott formen lassen kann.“
Auszug aus dem Portraitband: Gesichter und Geschichten, Band 2
Erzbistum Berlin, 172 Seiten, 20 x 25 cm, Klappenbroschur, farbig gestaltet, mit zahlreichen Farbfotos. 10 Euro.